Genom

Die Zeit ist nicht mehr fern, wo sich jeder Mensch mit seinem Genom befassen muss. Und so kompliziert das alles klingt – wir fangen besser rechtzeitig damit an: Das Genom ist die Gesamtheit der Erbinformationen eines Lebewesens. Seine Grundbausteine sind zwei sogenannte Basenpaare der DNA, die mit den Abkürzungen A-T und G-C bezeichnet werden. Schreibt man etwa drei Milliarden Mal A-T oder G-C in einer bestimmten Reihenfolge hintereinander, erhält man das Genom des Menschen. Theoretisch sollte diese Informationskette bei allen Vertretern einer Spezies, in diesem Fall des Homo sapiens, gleich sein. Aber jetzt versuchen Sie mal, drei Milliarden Bausteine zu kopieren, ohne Fehler dabei zu machen! Das schafft keiner – auch nicht die Natur im Prozess der Fortpflanzung. So trägt jeder von uns Millionen von kleinen genetischen Fehlern mit sich herum, was der bekannte Genetiker Billy Wilder auch schon vor Jahrzehnten schlüssig formuliert hat: »Nobody is perfect«.

Welche spannenden individuellen Fehler Ihr eigenes Genom enthält, können Sie inzwischen von Genlaboren untersuchen lassen. Sie brauchen dafür nicht mehr als eine Speichelprobe und etwa tausend Dollar. Der Gedanke, dass Sie damit in Ihrer Ganzheit entschlüsselt werden, hat etwas Schockierendes. Sollte für ein geübtes Auge, das solche Codes lesen kann, tatsächlich Ihr Wesen, Ihr Schicksal, Ihr Wert nun auf einen Blick erkennbar sein? Ihre Prädisposition zu Fettsucht oder Multipler Sklerose, Ihre Lebenserwartung, das Risiko eines Herzinfarkts, Ihre Neigung zu Alkoholismus und asozialem Verhalten – das alles und viel mehr lässt sich angeblich aus Ihrem Genom bereits ablesen; Firmen wie 23andme.com, de CODE Genetics und Navigenetics werben mit dieser Möglichkeit und versprechen, Ihre Genstruktur zu analysieren und permanent mit wissenschaftlichen Erkenntnissen abzugleichen – auch solchen, die erst in Zukunft gewonnen werden.

Selbst wenn Gentechnik-Propagandisten wie der Amerikaner Craig Venter damit kokettieren, dass sie ihr Genom bereits für jeden zugänglich ins Netz gestellt haben – das Ganze wirkt wie eine Entweihung unserer letzten Geheimnisse. Dürfen wir Wissen sammeln in einem Bereich, der bisher aus gutem Grund der Sphäre von Glaube und Hoffnung vorbehalten war? Wie gehen wir mit der Erkenntnis darüber um, welche Krankheit uns vermutlich erwischen wird, wann wir voraussichtlich sterben müssen, welche Erblasten wir unseren Kindern mitgeben? Und: Wollen wir das alles überhaupt wissen? Im Web kann man sich in Craig Venters Genom hineinklicken, tiefer und tiefer, bis jeder bunte Informationspunkt, jedes Pixel seiner Existenz auf dem Bildschirm sichtbar wird. Das wirkt in der Tat wie die Endstation auf jener großen Reise ins Innere, die ein zentrales Projekt der Moderne war, ein Vorstoß zu den letzten Dingen, die dem Zugriff des Menschen eigentlich entzogen sind.

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Doch wir dürfen uns von der unvorstellbar hohen Auflösung, mit der wir unsere innersten Zellstrukturen inzwischen betrachten können, nicht täuschen lassen. Betrachten heißt noch lange nicht verstehen – und jeder Gentechniker würde sofort zugeben, dass die Erkenntnis der komplexen, genetisch bedingten Vorgänge noch vollkommen unzureichend ist. Was wir bisher tun, ist in den meisten Fällen kaum mehr als ein Kartografieren sichtbarer Erscheinungsformen. Wir sind zwar ins Innerste vorgedrungen, kommen aber paradoxerweise über Äußerlichkeiten und statistische Korrelationen noch nicht hinaus. Die Aussage, dass ein bestimmter Genfehler die Gefahr eines Herzinfarkts um soundso viel Prozent erhöht, ist ungefähr von derselben Qualität wie die Erkenntnis, dass Linkshänder früher sterben als Rechtshänder. Die Zahlen mögen unwiderlegbar sein, Tausende von Probanden lügen nicht – aber was sagt uns das, macht es uns klüger, verändert es unser Leben? Im Grunde nein. Entscheidend bleibt die ungelöste Frage nach dem Warum.