Leserreporter

Seit der Tsunami-Katastrophe Ende 2004 haben Fotos und Videoaufnahmen von zufällig anwesenden Passanten ihren festen Platz in der Berichterstattung professioneller Medien. Einfache Handhabung und rascher Datentransfer machen aus jedem Fotohandy- oder Digitalkamera-Besitzer einen potenziellen Reporter, der außergewöhnliche Ereignisse, einen Unfall oder ein Naturspektakel, unmittelbarer einzufangen vermag als ein eigens herbeigerufener Berufsfotograf. Mittlerweile gibt es kaum eine Zeitungsredaktion, die auf die redaktionelle Unterstützung durch Amateuraufnahmen verzichtet – das Transrapid-Unglück ist das jüngste Beispiel für eine solche Zusammenarbeit.Die Aktion »Leserreporter«, wie sie die Bild-Zeitung während der Fußball-WM eingeführt und seitdem zu einer täglichen Rubrik ausgebaut hat, unterscheidet sich von dieser Praxis in verschiedener Hinsicht. Zum einen soll sich das Augenmerk der Fotografen nicht nur auf die Dokumentation außergewöhnlicher Ereignisse, sondern auf das Aufspüren von Prominenten richten – das flächendeckende Raster der »Leserreporter« lässt bekannten Gesichtern in Deutschland keinen Schlupfwinkel der Privatheit mehr. Zum anderen aber, und das ist vielleicht das wirklich Neue an dieser Aktion, wird die Arbeit der Amateurreporter ausdrücklich um den Aspekt der polizeilichen Überwachung ergänzt. Nicht umsonst hieß es bereits in einem der ersten Aufrufe der Bild-Zeitung, dass »Prominente, kuriose Unfälle, Kleinkriminelle bei der Arbeit« als vordringlichste Motive gewünscht seien. Zur Illustration war das Foto eines Mannes zu sehen, der gerade das Fahrrad eines Mädchens aus einem Hauseingang trug. Die Bildunterschrift lautet: »Die Überwachungskamera ihres Vaters hat den Dieb gefilmt.«Aufschlussreich ist die Wortwahl in dieser Zeile. Der Apparat des Hobbyfotografen wird als »Überwachungskamera« bezeichnet; aus dem einschlägigen Unterhaltungsformat mit kuriosen Amateurbildern, bekannt aus den Pannenshows im Fernsehen, ist ein Instrument der polizeilichen Arbeit geworden. In einer anderen Folge der »Leserreporter« wird dieser Zusammenhang noch deutlicher. Denn eines der gezeigten Bilder stammt tatsächlich von der Videokamera einer Tankstelle, die in körnigen Schwarz-Weiß-Bildern einen nackten Kunden beim Verlassen des Kassenraums zeigt. Hier ist die Überwachungskamera der Leserreporter (und man fragt sich, wem in diesem Fall das Autorenhonorar von 500 Euro zusteht: dem Tankstellenbetreiber?, dem Kamerahersteller?).Ist es nur ein chronologischer Zufall, dass die »Leserreporter«-Rubrik der Bild-Zeitung, die an manchen Tagen inzwischen ganze Seiten einnimmt, genau in die Zeit fällt, in der sich die Bundesregierung um ein aufwändigeres System der Videoüberwachung bemüht? Gerade hat ein Testlauf am Mainzer Hauptbahnhof begonnen: Zum ersten Mal wird das Bildmaterial von Überwachungskameras mit den biometrischen Daten aus dem Fahndungscomputer abgeglichen, um Verdächtige aus dem Passantenstrom herauszufiltern; zudem arbeiten Computerspezialisten an präventiv einsetzbarer Bildtechnik, die an Bahnsteigen bereits bei Bewegungsabläufen, die offenbar als typisch für potenzielle Terroristen gelten, Alarm auslösen. Die Zehntausende von Bild-Leserreportern wirken vor diesem Hintergrund wie eine Heerschar lebender Überwachungskameras, wie die mobile Eingreiftruppe einer neuen Bilderoffensive. In ihren Aufrufen verleiht die Zeitung ihrer Hoffnung Ausdruck, sie könne bald »alle 12 Millionen Leser zu Leser-Reportern machen«; nach dem unerwarteten Erfolg der Aktion gehe »kaum ein Bild-Leser noch ohne Kamera aus dem Haus«. Es klingt wie eine Warnung.In den Bild-Hobbyfotografen fallen zwei Sehnsüchte zusammen, die ohnehin zu den Grundsätzen der Zeitung gehören: die latent pornografische Gier nach dem möglichst eindringlichen, klaffenden Bild und das Einfordern einer möglichst strikten gesellschaftlichen Ordnung. Der Leserreporter ist für beides zuständig. Er ist Paparazzo und Polizist zugleich.