In der Anpreisung von »naturtrüben« Produkten ist eine Behauptung enthalten: dass das »Klare« im Umkehrschluss das Unnatürliche, Synthetische sei. Seit mindestens einem Jahrzehnt nehmen naturtrübe Biere, Säfte, aber auch Schnäpse oder Essige einen prominenten Platz in Bioläden und konventionellen Supermärkten ein. Ökologische Warentests treiben diese Etablierung voran, wenn sie in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis kommen, dass ungefilterte Fruchtsäfte oder Biere weitaus größere Mengen an Vitaminen und Mineralien enthalten. Sie legitimieren den Schritt vieler Brauereien und Saftproduzenten, Hefe- beziehungsweise Frucht-zuckerrückstände nicht mehr aus den Getränken zu entfernen.
Mit der Konjunktur des »Naturtrüben« ist aber die Frage nach der Geschichte und dem Status von Filtern verbunden. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts, das macht schon ein flüchtiger Blick in Wissensgebiete wie öffentliche Gesundheitspflege oder Bakteriologie deutlich, war die Perfektionierung von Filtrationsverfahren gleichbedeutend mit der Perfektionierung von menschlicher Zivilisation selbst. Das Vermögen, etwa Trinkwasser auf immer feinere Weise von Fremdstoffen zu befreien, erschien als Kulturleistung schlechthin, was sich auch auf den Umgang mit vielen anderen Flüssigkeiten übertrug. Der Siegeszug naturtrüber Getränke mindert diese konstante Bedeutung des Filters. Die Kategorie des »Klaren« erfährt eine grundsätzliche Umdeutung: Sie ist nicht mehr gleichbedeutend mit dem Reinen, sondern eher mit dem industriell Produzierten. Das Trübe dagegen, seit je das latent Verunreinigte, erscheint nun als Garant für Gesundheit und Wahrhaftigkeit. Einem Unertl-Weißbier würden gründliche Filter nicht mehr Schadstoffe entziehen, sondern die Seele.
Bis vor wenigen Jahrzehnten war das Konzept des »Naturtrüben« völlig undenkbar. Noch in den jüngsten chemischen Standardwerken zur Technik der Filtration ist die Identität von Klärung und Kultur vorausgesetzt. So heißt es in Gerhard Ross’ umfangreichem Beitrag zur Geschichte der Filtration von Flüssigkeiten von 1959: »Die Entwicklung der Filtration kann als ein Spiegel für den jeweiligen kulturellen Stand und besonders für den Stand der Hygiene eines Zeitalters angesehen werden… Das ästhetische Empfinden des Menschen fordert von Genussmitteln deren Sauberkeit, und besonders Getränke wie z.B. Wein, Bier, Most u.a. sind als klare, reine und durchscheinende Flüssigkeiten beliebt.« Andreas Kufferaths jahrzehntelang aufgelegtes Buch Filtration und Filter wiederum stellt eine Diagnose, die heutzutage ein Lächeln hervorruft: »Alkoholhaltige Getränke (Biere, Weine, Liköre) sowie alkoholfreie (Obstsäfte, Limonaden) würden bei Vorhandensein auch nur geringer Trübungen oder von Bodensatz schwer verkäuflich sein.
«Diese Zitate geben einen Eindruck davon, welch Mentalitätswandel mit dem Erfolg »naturtrüber« Getränke verbunden ist. Das aus der Alternativkultur der Siebziger- und Achtzigerjahre erwachsene Augenmerk auf möglichst naturbelassene Ernährung hat eine fast 200 Jahre lang stetig verfeinerte Kulturleistung, die Kunst des Filterns, zur Stagnation gebracht. Der Boom des Naturtrüben steht dabei für die gleiche Tendenz wie etwa auch die verbreitete »Renaturierung« von Flüssen in den letzten Jahren, die Rückführung in ihren ursprünglichen, verschlungenen Lauf, die das seit dem frühen 19. Jahrhundert angewandte Verfahren der Begradigung – als ein Mittel der Rationalisierung und Kultivierung von Landschaften – wieder zurücknimmt.
Eines darf man allerdings nicht vergessen: Die scheinbare Rückkehr zu vormodernen, »natürlichen« Produktionsprozessen von Getränken ist eher deren Simulation mit allermodernsten Mitteln. Die Vergröberung oder Absenz von Filtern ist kein einfaches Besinnen auf Vergangenes, sondern geschieht im genauesten Wissen um die zeitgemäßen hygienischen und technischen Standards. Insofern sollte man eine Begriffskorrektur vornehmen. Die neuen Bier-, Fruchtsaft- und Schnapssorten sind allenfalls »kulturtrüb«.