Weihnachtsmarkt

Das Erscheinungsbild der Städte im Dezember wird von Jahr zu Jahr deutlicher von Weihnachtsmärkten dominiert. Was vor nicht allzu langer Zeit noch auf eine einzige Veranstaltung auf dem Hauptplatz beschränkt war, hat sich rasant ausgebreitet; Ansammlungen von rot-golden dekorierten Holzbuden, in denen Weihnachtsschmuck, Lebkuchen und Glühwein verkauft werden, finden sich mittlerweile an zahlreichen Stellen der Stadt. In München etwa gibt es nach Auskunft der Kommunalverwaltung bereits 24, im städtischen Großraum sogar 65 Weihnachtsmärkte; der größte Markt auf dem Marienplatz ist in diesem Jahr endgültig in allen vier Himmelsrichtungen über sein angestammtes Areal hinweggeschwappt und hat beinahe das gesamte Zentrum eingenommen: ein Wuchern der Besinnlichkeit.Bemerkenswert und ein erster Hinweis auf den Grund für die Inflation der Märkte ist die besondere Lage der Budenstädte. Die in den vergangenen Jahren hinzugekommenen haben sich auffällig oft in den schmucklosesten Winkeln des öffentlichen Raums angesiedelt, vor Bürokomplexen und Einkaufszentren, an Bahnhöfen, S-Bahn-Haltestellen und Autobahnraststätten. Sogar auf dem Münchner Flughafen, im Karree zwischen altem und neuem Terminal, hat vor Kurzem ein Markt eröffnet; Glühwein- und Lebkuchenduft mischt sich in diesen Tagen wieder mit dem leichten Kerosingeruch, der über dem Gelände liegt. Offenbar sind es also nicht unbedingt die traditionsreichsten, altehrwürdigsten Orte einer Stadt, sondern umgekehrt genau die modernsten und flüchtigsten, die die Errichtung eines Weihnachtsmarkts begünstigen. Und das ist keine Entwicklung der jüngsten Gegenwart: Bereits bei der Gründung des zweiten Markts in München, 1976 in Schwabing, hing die Wahl des Ortes, die oberirdischen Ausläufer einer U-Bahn-Passage, gerade mit der Tristesse der Umgebung zusammen.Der Ethnologe Marc Augé hat Schauplätze wie Großflughäfen, Bahnhöfe, Business Lounges und Shopping Malls, die den öffentlichen Raum prägen, einmal als »Nicht-Orte« bezeichnet. Kennzeichnend für diese Sphäre sei, dass in ihrem Innern zwar größtmögliche Anonymität und Beziehungslosigkeit herrschen, an ihren Grenzen aber besondere Einlasskontrollen den Zugang regulieren. Identität stelle sich an diesen Orten also nicht mehr im sozialen Sinne her, durch ein gewachsenes Miteinander der beteiligten Menschen, sondern allein vor polizeilichem Hintergrund: als Identifikation, um die Schranken passieren zu können. Vermutlich muss man die immense Zunahme von Weihnachtsmärkten im letzten Vierteljahrhundert und vor allem in den vergangenen Jahren genau in diesem Zusammenhang betrachten: Sie sind in den vier Adventswochen ein willkommenes Anästhetikum des öffentlichen Raums; sie überziehen die kargen Nicht-Orte mit einem beruhigenden Kitt des Heimeligen und Besinnlichen. Die augenfällige Wahl der Schauplätze spricht eine klare Sprache: Genau an der Schwelle, an der sich die Menschen in das zugangsbeschränkte Niemandsland der Quick-Check-ins und Wartehallen, der Parkhäuser und Bürotürme begeben, soll der Parcours durch die Budenstraßen noch einmal die Ahnung einer verwurzelteren Existenz hervorrufen. Der Weihnachtsmarkt vermittelt jene tief eingesickerte Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, um die es an den Nicht-Orten gerade nicht mehr geht. Vor allem am Flughafen nehmen die Holzbuden daher eher die Aufgabe von Souvenirshops ein, wobei es nicht Reliquien eines Urlaubsortes sind, die kurz vor der Abreise noch erworben werden, sondern die einer vergangenen Lebensform. Später, in den Sitzschalen am Gate, erinnert die Tüte mit den bunten Holzengeln den Passagier an Weihnachtsabende der Kindheit, mit einem leuchtenden Christ-baum, Plätzchenteller und der gedeckten Familientafel. Mit seiner eigenen Existenz haben diese Bilder womöglich noch so viel gemein wie die Fotografien auf Ansichtskarten mit dem alltäglichen Bild der Stadt.