Als vor Beginn dieses Turniers wieder einmal die historischen WM-Partien der Deutschen im Nachtprogramm liefen, kam es bei manchen Spielsituationen zu einem irritierenden Moment. Ein Verteidiger von damals, Vogts, Karlheinz Förster oder Kohler, versuchte vergeblich, mit einem langen Pass einen Stürmer in Position zu bringen, der Ball ging meterweit ins Seitenaus, doch der Mitspieler – reagierte nicht! Er lief einfach weiter, ließ sich allenfalls zu einem Kopfschütteln über das Missgeschick des Verteidigers hinreißen, und erwartete den Einwurf des Gegners. Für den heutigen Zuschauer wirkten diese alten Szenen, als enthielten sie einen Fehler, als wäre eine notwendige Geste aus dem Spielablauf herausgeschnitten worden. Wo blieb der hochgereckte Daumen des Stürmers? Vor ein paar Jahren ist dieses Zeichen aufgekommen, und bei der aktuellen Weltmeisterschaft ist es allgegenwärtig geworden. Ob Messi oder Podolski, ob die Stürmer von Uruguay oder Neuseeland: Es gab in den letzten drei Wochen kaum einen langen Fehlpass aus der eigenen Hälfte, der nicht die ewig gleiche Reaktion nach sich gezogen hätte. (Eine Ausnahme bildeten vielleicht die Stürmer von Nordkorea, auch in dieser Hinsicht isoliert vom Rest der Welt.)
Woher stammt diese rätselhafte Gebärde, die umso deutlicher und nachdrücklicher zum Einsatz zu kommen scheint, je kolossaler das Zuspiel missglückt ist? Es ist eine Geste der Aufmunterung. Sie besagt: »War schon in Ordnung. Weiter so! Der nächste Pass kommt bestimmt an!«
Über die Jahrzehnte hinweg ändern sich im Fußball also nicht nur die Physiognomien der Fußballer oder System und Tempo des Spiels. Sondern auch etwas so vermeintlich Zeitloses und Natürliches wie das Reservoir an Gesten.
Es wäre eine anspruchsvolle, beinahe archäologische Aufgabe, jenes Spiel zu identifizieren, in dem der erste Stürmer in der Bundesliga, der Premier League oder der Serie A seinen Daumen Richtung Mitspieler hochgereckt hat. Der Verdacht besteht, dass dieser Moment zusammenfällt mit dem Einzug der Motivationstrainer und Sportpsychologen in die raue Welt des Fußballs, irgendwann in der Zeit um die Jahrtausendwende. Denn im hochgereckten Daumen nach einem schlechten Zuspiel verkörpert sich das Mantra des »Teambuilding«. Er ist die gestische Entsprechung der ewigen Rede vom Zusammenhalt der Gruppe auch in schlechten Zeiten. Der Fußball hat damit einer uralten Gebärde eine neue Botschaft eingepflanzt. Der Daumen symbolisiert nicht mehr Triumph, sondern Trost.
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