SZ-Magazin: Sie führen seit 25 Jahren Interviews mit Überlebenden des Holocaust, seit 2001 an der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Wie beginnen Sie ein solches Gespräch?
Diana Gring: Normalerweise stelle ich immer dieselbe Frage: »Wann und wo sind Sie geboren und was können Sie uns über Ihre Kindheit erzählen?« Bei Überlebenden, die als Kinder in die Verfolgung hineingeboren wurden, ist es natürlich schwierig, diese Frage gleich am Anfang zu stellen.
Heute gibt es immer weniger Zeitzeugen, die den Holocaust als Erwachsene durchlebten und davon erzählen können. Inwiefern verändern sich Ihre Gespräche, wenn nun diejenigen berichten, die damals Kinder waren?
Menschen, die den Holocaust als Kinder überlebten, haben manchmal nur ganz diffuse oder zersprengte Erinnerungen – die allerdings ihr gesamtes Leben beeinflussten. Ich habe das Gefühl, dass sie stärker in ihrem ganzen Wesen davon geprägt wurden und es für sie viel schwieriger ist, soziale Beziehungen zu pflegen oder Vertrauen aufzubauen. Die Erwachsenen von damals wussten ja, wie ein »normales« Leben aussehen kann. Doch diejenigen, die als Kinder verfolgt wurden, mussten das nach 1945 erst mühsam lernen.
Ein Moment in Ihrer Karriere, der Sie nachhaltig prägen sollte, ist verbunden mit dem Holocaust-Überlebenden Albrecht Weinberg. Was ist seine Geschichte?
Albrecht ist 1925 in Deutschland geboren – er hat also seine gesamte Kindheit und Jugend unter Antisemitismus und Verfolgung gelitten. Er ist ein ganz toller Mensch, sehr gebildet, freundlich und ohne Hass, obwohl er in seinem Leben viele schwere Dinge erleben musste. Er war zwei Jahre in Auschwitz, hat 1945 zwei Todesmärsche miterlebt. Der zweite führte ihn im April nach Bergen-Belsen. Seine Eltern wurden in Auschwitz umgebracht, sein Bruder starb ein Jahr nach dem Krieg. Er selbst wanderte mit seiner Schwester nach New York aus und kehrte erst vor wenigen Jahren wieder nach Deutschland zurück.
»Albrecht war ganz schockiert, fing an zu zittern und zu weinen. Fragte immer wieder, was mit ihr sei, sagte, sie solle aufstehen«
Was passierte bei Ihrer Begegnung?
Nach unserem Gespräch sind wir auf dem Gelände der Gedenkstätte spazieren gegangen. Hier gibt es keine Baracken mehr, aber eine sehr weite Fläche mit Massengräbern und Gedenksteinen. Dann passierte etwas eigentlich Alltägliches: Die Frau, die Albrecht damals begleitete, stolperte und fiel hin. Sie lag einen Moment auf dem Boden, hatte sich aber nicht verletzt. Doch Albrecht war ganz schockiert, fing an zu zittern und zu weinen. Fragte immer wieder, was mit ihr sei, sagte, sie solle aufstehen. Später erzählte er, dass diese Szene für ihn die Erinnerungen an die Todesmärsche wiedergebracht hatte. Wenn damals ein Mensch neben ihm hinfiel – aus Hunger oder Schwäche – bedeutete es, dass er sofort erschossen wurde.
Was löste dieser Moment in Ihnen aus?
Diese Situation hat mich lange beschäftigt und mir deutlich gemacht, wie stark die Verbindung zwischen dem Trauma von damals und unserem Alltag heute ist. Danach habe ich auch aus diesem Grund eine Weiterbildung zur Traumapädagogin und Traumafachberaterin gemacht, um besser zu verstehen, wie ich einem Menschen in solch einer Situation helfen kann.
Wie passen Sie dabei auf sich selbst auf?
In den ersten zehn Jahren habe ich gedacht, dass ich das alles problemlos wegstecken kann und es meine Hauptaufgabe ist, das Leid dieser Menschen zu dokumentieren und sie so gut wie möglich zu begleiten. Aber natürlich macht das auch eine ganze Menge mit mir selbst. Auf einer meiner ersten Reisen nach Polen habe ich in 14 Tagen zwölf Interviews geführt, weil ich so viel wie möglich mitnehmen wollte. Als ich am Ende der Reise auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Warschau stand, bin ich komplett zusammengeklappt. Die Geschichten der Überlebenden liegen auch auf meinen Schultern und viele sind so schrecklich, dass sie mich nicht loslassen.
Durch die Zusatzausbildung habe ich gelernt, wie ich auch besser auf mich achten kann. Zum Beispiel mache ich mir die schönen Seiten meines Berufes viel stärker bewusst. In den Interviews höre ich schließlich auch, dass es selbst im tiefsten, dunkelsten Abgrund des KZ manchmal noch Solidarität und Freundschaft gab. Viele Überlebenden haben es später trotz allem geschafft, eine Familie zu gründen und ein erfülltes, glückliches Leben zu führen.
»Früher war ich ganz eindeutig der ›Partyschreck‹ – wenn ich Platz am kalten Buffet brauchte, musste ich nur sagen, was ich beruflich mache«
Haben Sie auch mal daran gedacht, diesen Beruf aufzugeben? Bevor ich mit dem Interviewprojekt in Bergen-Belsen anfing, war ich nach New York gegangen – und dachte, ich habe mit Deutschland und dem Thema Holocaust abgeschlossen. Zwei Jahre habe ich in einem ganz anderen Beruf gearbeitet, als Pressesprecherin für ein Computerunternehmen. Doch mir fehlte dort die Tiefe, die wissenschaftliche Arbeit, die Recherche und auch die Nähe zu den Menschen.
Wie reagieren andere Menschen, wenn Sie von Ihrem Beruf erzählen?
Früher war ich ganz eindeutig der »Partyschreck« – wenn ich Platz am kalten Buffet brauchte, musste ich nur sagen, was ich beruflich mache. Heute stoße ich auf viele Menschen, die Interesse zeigen und fragen, wie es ist, an einem Ort zu arbeiten, an dem 72 000 Menschen begraben liegen. Doch nach wie vor erlebe ich aber auch Ablehnung und treffe Leute, die am liebsten nichts mehr zu diesem Thema hören möchten.
Übersetzen wir diese Reaktionen im Privaten doch auf eine breitere Ebene: Wie stabil sehen Sie die Erinnerungskultur und das Interesse an ihr in unserer Gesellschaft verankert?
Das möchte ich nicht generalisieren. Ich weiß, dass es nach wie vor viele Menschen gibt, die sich der Notwendigkeit und dem Sinn einer Erinnerungskultur bewusst sind und sie tatkräftig unterstützen. Aber mir ist auch klar, dass es immer mehr Leute gibt, die sie ablehnen – mit dem Argument, dass das alles ja schon so lange her sei.
»Wir müssen vor allem aufpassen, dass die Erinnerung nicht in leeren Ritualen erstickt wird«
Ist die wachsende zeitliche Distanz zu den Geschehnissen die größte Gefahr, der die Erinnerungskultur heutzutage ausgesetzt ist?
Ich glaube, wir müssen vor allem aufpassen, dass die Erinnerung nicht in leeren Ritualen erstickt wird, sondern lebendig bleibt und auf aktuelle Gefahren aufmerksam macht. Neulich stand ich auf einer Demonstration gegen die AfD und habe ein Plakat in der Hand gehalten, auf dem stand: »Bergen-Belsen ist kein Vogelschiss«.
Ihre Interviews dauern mehrere Stunden, Sie verbringen oft einige Tage mit dem Menschen, hören seine Geschichte, sehen ihn sämtliche Emotionen erneut durchleben. Welches Gefühl bleibt beim Abschied?
Dankbarkeit, dass diese Menschen ihre Geschichte noch einmal erzählen. In diesen Interviews liegt für sie auch eine unglaubliche Hoffnung, dazu beizutragen, dass so etwas nie wieder passiert. Häufig sagt man mir danach, dass ich jetzt dafür verantwortlich sei. Ich soll auf ihre Geschichten aufpassen und dafür sorgen, dass sie an folgende Generationen weitergetragen werden.