Etwa eine Millionen Flüchtlinge sollen 2015 nach Deutschland gekommen sein. Das sagte Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU). Später deutete er an, dass es auch mehr oder weniger gewesen sein könnten, er wisse es nicht ganz genau. Denn das Erfassungssystem »Easy« schließt Mehrfachregistrierungen und Karteileichen nicht aus. Anhand der Asylanträge lassen sich zumindest 477.000 Fälle klar belegen. Zahlen sind wichtig, sie bringen Leute auf die Straße, versetzen Politiker in Aktion und prägen Diskurse. Das gilt auch in der Flüchtlingskrise. Selbst Zahlen, bei denen nicht klar ist, wie sie sich zusammensetzen, können ein großes Echo erzeugen.
Wo Zahlen aber fehlen, bleibt die Debatte unkonkret. Eine Zahl, über die nicht debattiert werden kann, weil es sie nicht gibt, ist: der Schaden, der durch Angriffe auf Flüchtlingsheime aufgelaufen ist. Dabei ist sie gar nicht so unwesentlich: Was kostete der Flüchtlingshass das Gemeinwesen bisher?
1029 Straftaten gegen Asylunterkünfte hat das Bundeskriminalamt 2015 in Deutschland gezählt. Für 920 dieser Übergriffe seien eindeutig »rechtsmotivierte Täter« verantwortlich, erklärt eine Sprecherin; bei den übrigen Fällen könne ein rechtextremes Motiv nicht ausgeschlossen werden. Für das laufende Jahr hat das BKA bis zum 22. Februar 151 Taten gezählt. Inzwischen ist die Statistik veraltet, weil sie keine hohe Halbwertszeit hat, wie die Sprecherin erklärt. Wie hoch der entstandene Sachschaden ist, weiß sie nicht. »Möglicherweise können Ihnen da die Bundesländer weiterhelfen«, sagt sie. Gemeint sind die Landeskriminalämter. Sie sind es, die vor Ort ermitteln.
Erfahrungen mit Anschlägen haben im vergangenen Jahr alle 16 Bundesländer gesammelt. Besonders groß dürfte die Expertise in Sachsen sein, das als »Spitzenreiter« bei den Attacken gilt. Ist sie aber nicht. »Wie viele Angriffe auf Asylunterkünfte es im letzten Jahr gegeben hat, können wir nicht sagen. Wir werden aber in Kürze etwas veröffentlichen«, sagt die Sprecherin des LKA. Und im Vorjahr? – »2014 haben wir das noch nicht gesondert erfasst.« Zumindest dem Bundeskriminalamt will das sächsische LKA eine Schätzung übermittelt haben. Die ist nicht öffentlich. Und die Frage nach der Schadenssumme erübrigt sich.
Vielleicht weiß das Bundesinnenministerium mehr – immerhin hortet die Behörde einen Datenschatz. Ihr sind die Kriminalämter zugeordnet, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das Amt für Verfassungsschutz, das Bundesverwaltungsamt und das Statistische Bundesamt. Durch die Auswertung der hier zusammenlaufenden Daten können gesellschaftliche Entwicklungen früh erkannt werden – und Strategien für den Umgang mit Herausforderungen entstehen.
Aber auch hier: »Uns liegen dazu keine Zahlen vor«, sagt die Ministeriumssprecherin und empfiehlt, beim BKA und den Landeskriminalämtern zu fragen, die wiederum das Wissen eher beim Dienstherrn vermuten. Gibt es wenigstens interne Schätzungen? »Uns ist keine Schätzung bekannt.« Die Sprecherin verweist auf ein Datenproblem. Durch die Anschläge würden Menschen geschädigt, Gebäude und ganze Wirtschaftsbereiche. Auch der Tourismus leide darunter, wenn einzelne Regionen wegen der Brandanschläge gemieden würden. »Wo will man mit der Berechnung anfangen?«, fragt sie.
Übrig bleiben die Versicherer. Die sollten mehr wissen. Immerhin kommen sie für die meisten Schäden auf. Auch auf das mögliche Ergebnis solcher Berechnungen gibt es Hinweise: Es kostet es heute mehr, eine Flüchtlingsunterkunft zu versichern, als noch 2014.
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) will das nicht bestätigen. Dabei ist die Frage, ob sich das Versicherungsrisiko durch den sprunghaften Anstieg vergrößere, der Frage nicht unähnlich, ob Trockenheit die Gefahr von Waldbränden erhöhe. Beim GDV ist man sich nicht sicher. »Da uns dazu keine Zahlen vorliegen, wäre es unlauter, darauf zu antworten«, sagt die Sprecherin. Teuerungen könnten auch andere Ursachen haben. Viele Gebäude seien in einem schlechten Zustand.
Aus Sicht der Versicherten liegt der Verdacht nahe, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Unterbringung von Flüchtlingen und steigenden Versicherungskosten. »Wir finden zwar immer noch Versicherer für geplante Unterkünfte, aber die Konditionen sind gestiegen«, sagt Gesine Beste von der Stadtkämmerei München. Ihre Aussage deckt sich mit den Erfahrungen anderer Betreiber von Flüchtlingsunterkünften.
Vielen wurde sogar die Gebäudeversicherung gekündigt. So geschehen in Salzhemmendorf in Niedersachsen. Vier Wochen nachdem Unbekannte einen Brandanschlag auf ein Haus mit etwa 40 Bewohnern verübten – darunter Flüchtlinge und deutsche Mieter – kündigte die Generali-Versicherung den Besitzern. Bei einem Feriendorf im Odenwald lief es ähnlich ab. Dort kündigte die Basler Versicherung im Frühjahr 2015 die Inventarversicherung, als bekannt wurde, dass Flüchtlinge in dem Domizil untergebracht werden sollten. »Wir haben den Vorgang geprüft und möchten das Risiko wegen der gegebenen Gefahrerhöhung nicht mehr versichern«, zitierte BILD aus dem Kündigungsschreiben. Die gleiche Erfahrung machte ein Arzt, der in Kassel 25 Flüchtlinge in einem Wohnhaus unterbringen wollte. Zwar bot ihm die Sparkassenversicherung die Vermittlung an einen anderen Anbieter an – allerdings zu einem vierfach höheren Preis.
Von »Änderungskündigen« bei mehreren geplanten Flüchtlingsunterkünften berichtet auch die Regierung Oberbayern. Doch auch hier kann niemand den Schaden beziffern: »Welche Kosten die Änderungskündigungen bei geplanten Flüchtlingsunterkünften im vergangenen Jahr verursacht haben, haben wir bisher nicht im Detail erhoben und können dies derzeit nicht konkret benennen« erklärt Martin Nell, der Sprecher: »Die Unterbringung der Asylsuchenden bindet einen Großteil unserer Kapazitäten und hat momentan höhere Priorität.«
Ausschlaggebend für den Versicherungsschutz sei, wie gefährdet eine Unterkunft ist, in welchem Zustand sich ein Gebäude befinde und wie viele Menschen dort wie lange lebten, beteuert der Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft. »Die Herkunft der Menschen spielt für den Versicherungsschutz keine Rolle.« In der Praxis entscheiden die Versicherer jedoch im Einzelfall über die Gefährdung einer Unterkunft und die Versicherungskosten. Und dass Flüchtlingsunterkünfte heute gefährdeter sind als noch vor wenigen Jahren, zeigt nicht nur die vorläufige Statistik des Bundeskriminalamts. Es deckt sich auch mit den Erfahrungen der Betreiber. So wirkt sich die Herkunft von Bewohnern indirekt doch auf die Versicherungskosten aus.
Am Ende liefert der Versicherer-Verband dann doch noch einen Näherungswert: »Was wir sagen können«, sagt die Sprecherin, »ist, dass die Schäden bei Sammelunterkünften im deutlich zweistelligen Millionenbereich liegen.« In dieser Rechnung seien nicht nur Brandanschläge enthalten, sondern auch andere Schadensfälle. Von vielen Versicherungen gebe es zudem die Rückmeldung, dass die Schäden an geplanten und bestehenden Unterkünften die Einnahmen der Versicherer überstiegen. Überprüfen lässt sich das nicht. Außerdem bezieht sich die Einschätzung nur auf einen Teil der Unterkünfte. Fest steht nur: Für die moralische Bewertung der Angriffe braucht es die genaue Zahl sowieso nicht.
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