Zeit ist in unserer Gesellschaft für viele ein knappes Gut; dementsprechend wird sie allenthalben mit Geld aufgewogen. Fährt nach der Zechtour kein Bus mehr, bleiben eine Stunde Fußmarsch oder ein Taxi. Der Betuchte erkauft sich diese Stunde mit zwanzig Euro, darf früher ins Bett – oder länger feiern. Wer bei sich zu Hause sauber machen und die Hemden bügeln lässt, leistet sich ein unbeschwertes Wochenende. Am Grundprinzip, Zeit zu kaufen, stößt sich offenbar niemand; im Gegenteil: Durch den viel beschworenen Dienstleistungssektor soll an ihm sogar unsere Wirtschaft mit genesen. Also alles okay?Die Grundsatzfrage ist: Wie weit wollen wir diese Möglichkeit in unserer Gesellschaft zulassen? Darüber kann man streiten – die Meinungen variieren je nach politischer Überzeugung. Empfindlich werden wir aber alle, wenn es um die Staatsordnung geht. Programmatisch ist der Satz: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.« Damit Person und Geld keine Rolle spielen, trägt Justitia die Augenbinde. Neben den Gerichten hat das auch für sonstiges staatliches Handeln – wie hier in einem Amt – zu gelten und damit indirekt auch für das Anstehen davor.Nun mag ein überzeugter Marktanhänger die Anstehdienst-Ich-AG befürworten; schließlich geht es nicht um die staatliche Leistung als solche, sondern nur um das Warten – kein Hauptzweck selbst der kafkaeskesten Behörde. Doch im Fall, von dem Sie berichten, kommt noch etwas hinzu: Wer morgens nicht eine, sondern gleich mehrere Nummern zieht, geriert sich als Spekulant mit der Zeitnot der anderen, schlimmer noch: mit dem Zugang des Bürgers zum Staat. Er verdrängt die regulär Wartenden nach hinten und da wird die Grenze endgültig überschritten.Zu guter Letzt: Darf man davon »nur« profitieren? Ganz klar: nein. Denn sonst macht man mit und schon das Sprichwort sagt: Der Hehler ist schlimmer als der Stehler.
Die Gewissensfrage
»Eine Kollegin war auf dem Kreisverwaltungsreferat, um sich umzumelden. Sie zog eine Wartenummer, vor ihr eine lange Schlange. Plötzlich wurde sie von einem jungen Mann angesprochen, der ihr für zwanzig Euro eine Nummer ganz vorn verkaufen wollte. Sie kam mit ihm ins Gespräch und er erzählte ihr, dass er und seine Freunde immer ganz früh im KVR seien, um sich mehrere Nummern zu ziehen und diese dann zu verkaufen. Darf man sich so vordrängen oder unterstützt man dadurch illegale Machenschaften? Wie denken Sie darüber?«
CHRISTINA C., MÜNCHEN