Es scheint sich hier wieder einmal um das Problem von Schuld und Verursachung zu drehen. Wenn Sie den Motorradführerschein Ihres Bruders mitfinanzieren, und er verunglückt anschließend, haben Sie zweifelsfrei ursächlich dazu beigetragen. Denkt man sich die finanzielle Unterstützung weg, hätte er nicht fahren können.
Nur folgt daraus nicht automatisch auch eine Schuld. Stellen Sie sich vor, Sie halten ein Schwätzchen mit Ihrem Nachbarn, der bleibt kurz bei Ihnen stehen und wird ein paar Minuten später von einem herabfallenden Dachziegel erschlagen. Ohne Sie wäre er nicht in der Sekunde dort gewesen, wo der Ziegel einschlug. Dennoch tragen Sie keine Schuld, denn ein Gespräch unter Nachbarn enthält nichts Vorwerfbares, sondern ist unter dem sozialen Gesichtspunkt positiv zu werten. Und das Unglück war zwar vorstellbar, aber nicht wirklich zu erwarten. Entspricht dem die Unterstützung für Ihren Bruder? Zum Teil. Einerseits ist das erhöhte Risiko der Motorradfahrer hinreichend bekannt. Andererseits stellt das Motorrad ein gesellschaftlich akzeptiertes gängiges Fortbewegungsmittel dar, Hilfe unter Geschwistern etwas Begrüßenswertes und Ihr Bruder ist ein freier Mensch.
Eine wirkliche Mitschuld könnte man daher wohl kaum annehmen, dennoch spricht etwas gegen das Vorhaben: Es gibt Gedanken, die, einmal gedacht, sich nicht mehr aus der Welt schaffen lassen und damit die Ausgangslage verändern. Ihre Überlegungen in diesem Fall gehören in diese Gruppe. Egal ob Schuldvorwürfe berechtigt wären oder nicht, allein dass Sie sich darüber den Kopf zerbrochen haben, raubt Ihnen – vor allem sich selbst gegenüber – die gedankliche Unschuld. Das mag nur zum Teil eine ethische Überlegung sein, aber zu seinen Meinungen zu stehen hat auch Gewicht, und Ihr eigenes Wohlbefinden hat nicht weniger Wert als das Ihres Bruders.
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Marc Herold (Illustration)