Die Gewissensfrage

»Wenn ich im Supermarkt zahle und nur ein paar Cent rauskriege, frage ich mich jedes Mal, ob ich mir das Wechselgeld wirklich auszahlen lassen soll: Einerseits erscheint mir das kleinlich, andererseits habe ich irgendwie das Gefühl, die Kassiererin zu erniedrigen, wenn ich ihr zwei Cent Trinkgeld überlasse. Wie ist es richtig?« Andrea H., Frankfurt

Bei mir gegenüber gibt es eine sehr nette Bäckerei. Von Zeit zu Zeit passiert es dort, dass ich kein Kleingeld habe und sich in der Kasse zu wenig befindet, um passend herauszugeben. Je nachdem, ob das, was ich zahlen muss, knapp über oder unter einem runden Betrag liegt, sagt entweder die Verkäuferin, das sei so in Ordnung oder ich verzichte dankend auf die Herausgabe der nicht vorhandenen Münzen.

Auf die Idee, ich würde dabei wegen meines naturgemäß stets freundlichen Kundenverhaltens zehn oder zwanzig Cent Trinkgeld erhalten, bin ich dabei ebenso wenig gekommen wie vermutlich ihrerseits die Dame. Die Vorgehensweise erleichtert ganz einfach beiden Seiten das Leben und gleicht sich unterm Strich auch sicherlich aus. Gelegentlich stehe ich woanders in einer Schlange und muss miterleben, wie vor mir wegen geringer Beträge im Geldbeutel gekramt und der Betrieb endlos aufgehalten wird. Dann bin ich knapp davor, von hinten vorzurufen, dass ich gern die Differenz bezahle und ich mir wünsche, in Finnland zu leben, wo man traditionell keine 1- und 2-Cent-Münzen benutzt und alle Beträge entsprechend rundet; oder dass man sich überall das Kassen-Leben so erleichtert wie in meiner Bäckerei, beiderseitig. Andererseits sind Kassiererinnen zu penibler Genauigkeit verpflichtet, weshalb sie einem Kunden nur dann ein paar Cent »erlassen« können, wenn sie auf der Kasse ein paar Cent liegen haben, die sie zum exakten Ausgleich in die Lade geben können.

Weil diese Münzen von Kunden wie Ihnen stammen, ist Ihr Vorgehen – falls es die Marktleitung erlaubt – für alle ein Gewinn.

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In Wirklichkeit geben Sie das Kleingeld also gar nicht der Kassiererin – schon gar nicht als Trinkgeld –, sondern der Notgemeinschaft der Kassenschlangengeschädigten. Um dort die verdiente Ehrenmitgliedschaft zu erhalten, sollten Sie nur noch auf die richtige Kommunikation achten: »Der Rest ist für Sie« wäre bei wenigen Cent tatsächlich eine Beleidigung, aber ein »Stimmt so« oder noch besser ein einfaches »Danke« sollten in diesem Sinne richtig verstanden werden.

Wenn Sie dieses Thema interessiert, können Sie hier weiterlesen:
Das Trinkgeld, von Rudolf von Jhering, Verlag George Westermann Braunschweig 1882, online abrufbar unter http://de.wikisource.org/wiki/Das_Trinkgeld
Eine historische Betrachtung findet sich bei: Winfried Speitkamp, Der Rest ist für Sie! Kleine Geschichte des Trinkgeldes, Philipp Reclam Verlag Stuttgart 2008.
Ansonsten finden sich zum Teil Tabellen mit Angaben zu den verschiedensten Situationen in vielen Benimmratgebern.


llustration: Marc Herold