Die Gewissensfrage

Harro, Gassi! Macht man einen Hund aus dem Tierheim glücklicher, wenn man mit ihm Spazieren geht oder deprimiert ihn danach sein Dasein nur umso mehr?

»Ist es moralisch vertretbar, Hunde für einen Tag aus dem Tierheim zu holen und sie abends wieder zurückzubringen? Viele Menschen tun das, weil sie denken, den Tieren einen Gefallen zu tun, wenn sie diese für einen Tag aus dem tristen Tierheim-Dasein befreien und mit ihnen spazieren gehen, spielen und herumtollen. Aber ist es für die Tiere nicht vielleicht weitaus schmerzlicher zu erfahren, wie schön das Leben sein kann, und dann wieder zurückzumüssen, als niemals die vertraute Umgebung – so einsam sie auch sein mag – zu verlassen?« Andrea K., Zuffenhausen

Ihre Frage ist deshalb so interessant, weil sie eine moralische, eine philosophische und eine praktische Komponente hat. Die moralische haben Sie bereits angesprochen: Tiere – nicht nur die im Tierheim – sind keine Freizeitgeräte, die man sich für das eigene Vergnügen rausholt und danach wieder in den Schrank zurückstellt. Aus tierethischer Sicht sind die Leihspaziergänge nur vertretbar, wenn die Hunde davon ebenfalls profitieren, zumindest aber darunter nicht leiden. Und ausschlaggebend sollte in der Tat eine Gesamtbetrachtung sein, nicht nur die wenigen Stunden draußen. Dabei fühlen sich die Hunde zwar sichtlich pudelwohl, aber womöglich, so fürchten Sie, ist am nächsten Tag der Katzenjammer umso größer.

Katzenjammer wünscht man dem schlimmsten Kampfhund nicht, aber wie stellt man eine Gesamtbetrachtung der Empfindungen des Hundes an? Dafür müsste man eigentlich eines wissen: Wie fühlt es sich an, ein Tierheimhund zu sein? Und damit wären wir tief in der Philosophie. In seinem bekannten Aufsatz Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein? stellte der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel fest, dass man immer nur eine Aussage darüber treffen kann, wie einem selbst zumute wäre, wäre man an der Stelle eines anderen Lebewesens, nicht aber darüber, »wie es sich für Fledermäuse anfühlt, eine Fledermaus zu sein«. Das Bewusstsein eines Hundes mit dessen subjektiven Erleben bleibt somit für den Menschen nicht zugänglich.

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Wie geht man damit praktisch um? Auch wenn man nicht wie ein Hund empfinden kann, lassen sich doch Beobachtungen machen und daraus Schlüsse ziehen. Deshalb habe ich mich bei der Arbeitsgemeinschaft Hundehaltung unter dem Dach der Bundestierärztekammer erkundigt. Von dort erfuhr ich, dass aus tierverhaltenstherapeutischer Sicht nichts gegen das Ausführen spräche, wenn man bestimmte Regeln beachte, etwa nicht immer wieder denselben Hund ausführt, der sich sonst an das vermeintliche neue Herrchen gewöhnt. Die Beschäftigung sei für den Hund positiv zu beurteilen, zudem hätten Hunde kein Zeitgedächtnis, sodass sie nicht wüssten, wie lang der letzte Ausflug zurückliegt. Diese Expertise reicht meines Erachtens aus, um mit den Tierheimhunden guten Gewissens spazieren zu gehen; wenn auch die philosophische Frage und damit ein Rest Unsicherheit stehen bleibt: Wie fühlt sich Zeit für einen Hund an?


Wenn Sie sich für dieses Thema interessieren, schlägt Dr. Dr. Rainer Erlinger folgende Lektüre vor:

-Thomas Nagel, What Is It Like to Be a Bat?, in: The Philosophical Review, Vol. 83, No. 4. (1974), pp. 435-450, hier online abrufbar.
Oder auf deutsch: Thomas Nagel, Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein? In: Thomas Nagel, Letzte Fragen – Mortal Questions, Europäische Verlagsanstalt Hamburg 2008, S. 229-249.

-Fachliches zur Hundehaltung findet sich auf den Seiten der Bundestierärztekammer: Informationen über eine Bundesweit einheitliche Sachkundeprüfung für Hundehalter und –interessierte unter: www.doq-test.de

-D. U. Feddersen-Petersen, P. Piturru, W. -D. Schmidt, Hunde und Menschen - immer gern gesehen? D.O.Q.-Test 2.0: Vorbereitung auf die Sachkundeprüfung für Hundebesitzer. Kynos Verlag, Nerdlen/Daun 2009.

- Verhaltenshinweise für das „Gassigehen mit Tierheim-Hunden“ auf den Internetseiten des Tierheims München.

lllustration: Marc Herold