Die Gewissensfrage

Ist es in Ordnung, genüsslich zu Abend zu essen, während im Fernsehen Nachrichten über Hunger und Zerstörung laufen?

»Nach einem ausgefüllten Tag mit zwei Kleinkindern, Haushalt, Mann und Beruf beginnt für mich um 20 Uhr der Feierabend. Häufig setze ich mich dann mit einem Glas Wein und einem Happen zu essen vor den Fernseher und sehe mir die Nachrichten an. Viele Meldungen handeln von Kriegen und Naturkatastrophen. Ich sehe Menschen, die um ihr Leben kämpfen,  während ich es mir auf dem Sofa gemütlich gemacht habe. Müsste ich nicht - aus Respekt vor diesen Menschen - meine Mahlzeit zumindest bis 20.15 Uhr aufschieben und mich so lange vollkommen auf die Sendung konzentrieren?« Karin M., Münster

»Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei, / Die Völker aufeinander schlagen.« Ein wenig muss man bei Ihren Überlegungen an die berühmte Sequenz aus dem Osterspaziergang in Goethes Faust denken. Zumal der Dialog dann genau mit dem Glas Wein weitergeht, von dem auch Sie berichten: »Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus / Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; / Dann kehrt man abends froh nach Haus, / Und segnet Fried und Friedenszeiten.« Spätestens bei den darauffolgenden Zeilen bemerkt man, dass schon Goethe den Kontrast zwischen Wohlfühlen zu Hause und Berichten von Gräueln andernorts kritisch sah: »Herr Nachbar, ja! So lass ich’s auch geschehn: / Sie mögen sich die Köpfe spalten, / Mag alles durcheinander gehn; / Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.«

Ihr Problem scheint älter zu sein als vermutet. Aber wie damit umgehen? Eine Möglichkeit wäre tatsächlich, mit dem eigenen Genuss zu warten, bis die Berichte zu Ende sind. Das wäre hochanständig im Sinne privater Gedenkminuten auch aus Respekt vor den Menschen, um die es in den Berichten geht. Dennoch habe ich meine Zweifel, ob es wirklich notwendig ist. Überspitzt ausgedrückt, könnten Sie dann, wenn zwischendurch von der Eröffnung der Bundesgartenschau berichtet wird, schnell einen Schluck oder Bissen zu sich nehmen.

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Deshalb würde ich den Schwerpunkt woanders setzen. Der Medienethiker Rüdiger Funiok betont, dass auch der Nutzer verantwortlich mit den Medien umgehen und Medienkompetenz entwickeln muss. Dazu gehört es laut Funiok, die Wirkungen der Medien auf die eigenen Emotionen, Vorstellungen und Verhaltensmuster und die anderer wahrzunehmen. Das auch deshalb, weil wir allen Medienangeboten eigene subjektive Bedeutungen geben. Notwendig ist also, sich bewusst zu machen, dass das, was man in den Nachrichten sieht, nicht eine Abendunterhaltung mit leichtem Schaudereffekt darstellt, sondern dass es um echte Schicksale von Menschen geht. Es geht in erster Linie um dieses Bewusstsein; wenn man sich das erhält und damit auch der Abstumpfung durch die Bilder und Meldungen entgegenwirkt, kann man meines Erachtens auch nebenher etwas trinken und essen und es sich sogar gemütlich machen.

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Rainer Erlinger empfiehlt zu diesem Thema folgende Literatur:

Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Zeile 860 ff.
Rüdiger Funiok, Medienethik, Kohlhammer Verlag Stuttgart, 2. Auflage 201
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Illustration: Marc Herold