»Jeden Morgen werde ich im Zug Zeuge folgender Szene: Eine Gruppe von fünf Berufspendlern steigt in Freiburg am Zugende ein, wo es mehr freie Plätze gibt. Kurz vor ihrem Ziel stehen alle fünf auf und laufen in einer Kolonne durch den halben Zug bis zur Zugmitte, um möglichst nah am Bahnhofsausgang aussteigen zu können. Das ist sicherlich ökonomisch gedacht – aufs Jahr gesehen summiert sich die Zeitersparnis von wohl 30 Sekunden täglich auf etwa zwei Stunden. Und es ist auch nicht schlimm, wenn jemand während der Fahrt durch ein Abteil läuft. Aber wenn es alle täten, wäre der Störfaktor enorm. Was ist also hiervon zu halten?« Frank-Walter M., Stuttgart
Wer öfter Bahn fährt, kennt sie, die Reisenden, die, oft mit größerem Gepäck, vor Haltepunkten durch den Zug wandern, bei Kopfbahnhöfen gern auch bis ganz nach vorn, nur um draußen am Bahnsteig ein paar Sekunden schneller zu sein. Menschen, die ihr Leben derart optimieren, sind mir – vorsichtig ausgedrückt – suspekt. Das hat etwas von Schnäppchenmentalität bei der Gestaltung des eigenen Lebens an sich. Und es schimmert eine Art Gier durch. In diesem Fall nicht nach Geld oder Dingen, sondern nach dem größtmöglichen eigenen Vorteil.
Nun sind meine persönlichen Abneigungen ein schwaches Argument, und es scheint schwierig, eine harte Begründung zu finden. Rechtlich ist gegen das »Vorgehen« im wörtlichen Sinne ohnehin nichts einzuwenden. Und da niemand wirklich nachhaltig beeinträchtigt wird, verbietet es auch die Moral nicht im strengen Sinne. Ja, nicht einmal Höflichkeit oder Manieren helfen hier weiter: Solange man dabei niemanden anrempelt, ist es weder unhöflich, durch einen Zug zu laufen, noch untersagen es Benimmratgeber. Zudem bezweifle ich, dass es besser wäre, würden die fünf Herrschaften Tag für Tag vor jedem Fahrgast, an dem sie vorbeikommen, jeweils formvollendet den Hut ziehen und einen schönen guten Morgen wünschen.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle etwas ins Spiel bringen, was mir sehr am Herzen liegt: das Prinzip der Rücksicht. Das Zusammenleben wird einfacher, wenn man nicht immer bis an die Grenzen dessen geht, was man berechtigt ist zu tun. Jeder kann sich, bildlich gesprochen, immer so weit ausbreiten, wie er oder sie darf – dazu gehört auch, den optimalen Zugausgang zu wählen. Dann muss man aber jedes Mal, wenn man, wie in Ihrem Fall, auf einen anderen trifft, klären, wie weit man sich zu Recht ausgebreitet hat und wer gegebenenfalls zurückstecken muss. Das ist möglich – aber anstrengend und konfliktträchtig. Und man kann es in einem Großteil der Fälle vermeiden, indem man sich nur ein bisschen zurücknimmt, also generell die Grenzen dessen, was man tun darf, nicht vollständig ausschöpft. Die Einschränkung ist minimal, der Gewinn an Lebensqualität für alle Beteiligten im Vergleich dazu riesengroß. Auf jeden Fall größer als die paar Sekunden, für die sich jemand an vielen anderen vorbei durch enge Zuggänge quetschen muss.
Heute ausnahmsweise in eigener Sache:
Rainer Erlinger, Moral - Wie man richtig gut lebt, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. Dort Teil III: Grundpfeiler einer zeitgemäßen Moral, Kapitel 15 „Über Rücksicht".
Illustration: Marc Herold