Die Gewissensfrage

Eine Freundin schenkt mir eine CD - kopiert sie aber vorher für den Eigengebrauch. Darf ich verschnupft sein?

»Kürzlich bekam ich von einer Freundin zum Geburtstag eine Musik-CD geschenkt. Als ich mich ein paar Tage später noch mal bedankte, weil mir die Musik so gut gefiel, sagte sie: ›Ja, ich bin auch ganz begeistert, ich habe mir vor deinem Geburtstag eine Kopie von deiner CD gezogen.‹ Daraufhin war mir die Freude an der CD vergällt, denn ich hatte in dem Moment das Gefühl, ein ›benutztes‹ Geschenk bekommen zu haben. Sie hätte mich ja auch hinterher um eine Kopie bitten können. Darf ich zu Recht verschnupft sein?« Lisa R., Dortmund

In der indianischen Kultur der nordamerikanischen Pazifikküste kennt man den sogenannten Potlatch. Bei dieser ritualisierten Form des Geschenkaustauschs verschenkt ein gastgebender Häuptling in zeremonieller Form in großem Maßstab Reichtümer an einen anderen Clan, der, um nicht seine Ehre zu verlieren, zu einem späteren Zeitpunkt versuchen muss, die Geschenkorgie im Gegenzug zu übertrumpfen. Derartige Rituale kennt man auch aus anderen Kulturen, teilweise werden die Dinge auch nicht einmal verschenkt, sondern öffentlich zerstört, verbrannt, ins Meer geworfen, es werden Sklaven getötet oder Lasttieren die Fesseln durchgeschnitten. Diese Zeremonien werden einerseits als Wettkampf um Überlegenheit gedeutet – Wer kann mehr geben oder zerstören? –, andererseits als Methode der Umverteilung, die verhindert, dass ein Clan zu große Reichtümer anhäuft.

Bevor man nun darüber lächelt, sollte man sich klarmachen, dass etliche Elemente sich auch in unseren heutigen Bräuchen wiederfinden und man etwa Weihnachten mit dem ritualisierten Geschenkaustausch als Potlatchfest ansehen kann. Hierher gehört aber auch die Tatsache, dass man – speziell unter Liebenden, aber beispielsweise auch gegenüber Gastgebern – keine nützlichen Dinge, sondern nur Luxus, am besten Vergängliches schenkt: verblühende Blumen, verfliegendes Parfüm, Champagner. Oder Wertvolles ohne direkten praktischen Nutzen wie Schmuck oder Dekoratives.

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Was hat das mit Ihnen zu tun? Offenbar bemessen auch Sie den Wert eines Geschenkes danach, wie sehr die Schenkende durch das Geschenk ihr Vermögen mindert. Anders als bei einem Buch, bei dem es für einen Bibliophilen einen Unterschied machen kann, ob es schon einmal gelesen wurde, ändert sich ein rein technisches Medium wie eine CD nicht, wenn man es einmal kopiert. Ihr Gewinn im Sinne des Genusses bleibt also gleich.

Sie können sich nun überlegen, ob Sie ein Geschenk danach beurteilen, wie viel Freude es Ihnen bereitet. Oder ob es Ihnen tatsächlich darauf ankommt, wie viel die Schenkerin dabei aufgewendet hat. Auch das ist möglich, nur sollte Ihnen bewusst sein, dass Sie damit eine Form von Potlatch betreiben.

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Quellen:

Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 9. Auflage 1990

Iris Därmann, Theorien der Gabe. Zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2010

Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1987. S. 70 ff.

Das Kopieren von CDs ist im Privatbereich, wenn die CD keinen Kopierschutz aufweist, in kleinem Umfang legal, wie § 53 des Urheberrechtsgesetzes ausdrücklich festlegt.

Urheberrechtsgesetz (UrhG)

§ 53 Vervielfältigungen zum privaten und sonstigen eigenen Gebrauch

(1) Zulässig sind einzelne Vervielfältigungen eines Werkes durch eine natürliche Person zum privaten Gebrauch auf beliebigen Trägern, sofern sie weder unmittelbar noch mittelbar Erwerbszwecken dienen, soweit nicht zur Vervielfältigung eine offensichtlich rechtswidrig hergestellte oder öffentlich zugänglich gemachte Vorlage verwendet wird. Der zur Vervielfältigung Befugte darf die Vervielfältigungsstücke auch durch einen anderen herstellen lassen, sofern dies unentgeltlich geschieht oder es sich um Vervielfältigungen auf Papier oder einem ähnlichen Träger mittels beliebiger photomechanischer Verfahren oder anderer Verfahren mit ähnlicher Wirkung handelt.

Illustration: Marc Herold