»Ich bin zur Hochzeit einer ehemals guten Freundin eingeladen. Ihren künftigen Ehemann und seine Freunde kann ich nicht leiden. Wir haben uns in den vergangenen Jahren in unterschiedliche Richtungen entwickelt, und ich weiß, dass die Hochzeit stillos verlaufen wird. Daher sagt mir mein Bauchgefühl, dass sich der Aufwand (lange Anfahrt, hohe Kosten für Hotel und Bahn) nicht lohnt. Muss ich dennoch meinem Gewissen folgen, das mir sagt, ich soll für meine Freundin und ihren bedeutsamsten Tag Unannehmlichkeiten auf mich nehmen?« Birgit B., Hamburg
Die Hochzeit gilt oft als der schönste Tag im Leben, deshalb ist es vielen wichtig, ihn möglichst mit allen Freunden zu feiern. Das spricht dafür, als Freundin zu erscheinen, auch wenn es mit Unannehmlichkeiten verbunden ist. Man könnte es sogar als Freundespflicht auffassen. Vom Begriff »Pflicht« ist der Weg zu Immanuel Kant nie weit und in diesem Fall auch nicht zur spöttischen Xenie des Dichterphilosophen Friedrich Schiller über Kants Trennung zwischen pflichtgemäßem Handeln und Handeln aus Pflicht: »Gern dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin. / Da ist kein anderer Rat; du musst suchen, sie zu verachten, / Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.« Der hier kritisierten Unterscheidung zufolge würden Sie sogar moralisch hochwertiger handeln, wenn Sie gegen Ihre Neigung nur aus Pflicht zur Hochzeit fahren, als wenn Sie es gern machen und gleichzeitig auch noch eine Freundschaftspflicht erfüllen.
Man könnte aber auch anders ansetzen. Vielleicht kennen Sie die Volksweisheit, dass es dann am schönsten wird, wenn man eigentlich gar keine Lust hat. Ich würde mich jedoch eher an einem Phänomen orientieren, das in den letzten Jahren zunehmend auch wissenschaftliche Anerkennung findet: das Bauchgefühl. Sie schreiben, es rät Ihnen davon ab, zu der Hochzeit zu fahren. Insofern spricht manches dafür, dass Sie damit recht haben und es Ihnen nicht gefallen wird. Und für eine echte
Wiederannäherung der alten Freundinnen ist die Hochzeit der ungünstigste Moment: Das Brautpaar wird mit einer Vielzahl von Gästen beschäftigt sein – und hoffentlich mit sich selbst.
Wie geht man nun um mit der Kollision von Pflicht und Unlust? Am Ende gibt für mich eine ganz einfache Überlegung den Ausschlag: Man kann allenfalls verpflichtet sein, einer Freundin einen Gefallen zu tun oder, in den Worten Schillers, »ihr zu dienen«. Ihrer Freundin ist aber nicht gedient, wenn jemand widerwillig zu ihrer Hochzeit kommt. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, Sie würden ihr offen sagen, wie Sie über die Hochzeitseinladung denken: Ob sie Sie dann wohl noch dabei haben wollte?
Quellen:
Kants berühmte Unterscheidung zwischen Handeln aus Pflicht und pflichtgemäßem Handeln findet sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Band IV S. 397 ff. Schillers Kritik an Kant findet sich in den Xenien, als „Gewissensskrupel“ und „Decisum“ online zum Beispiel bei Zeno.org.
Schillers Kritik wird wiederum in der Kantforschung kritisiert, siehe zum Beispiel: Otfried Höffe, "Gerne dien ich den Freunden, doch tue ich es leider mit Neigung...": Überwindet Schillers Gedanke der schönen Seele Kants Gegensatz von Pflicht und Neigung? Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 60 (2006), S. 1-20
Über das Bauchgefühl als Entscheidungshilfe: Bas Kast, Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft: Die Kraft der Intuition, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2009
Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, Goldmann Verlag, München 2008
Illustration: Marc Herold