»Ich bin Veganer und bemühe mich, nichts ›Tierisches‹ zu konsumieren. Ist es mir moralisch gestattet, Gürtel und Schuhe aus Leder zu kaufen? Mir ist sehr wohl bewusst, dass Tiere überwiegend wegen des Fleisches geschlachtet werden und vergleichsweise selten wegen des Leders. Soll ich trotzdem radikal bleiben?« Conny F., Ulm
In seiner Eristischen Dialektik, oft auch »Die Kunst, Recht zu behalten« betitelt, stellt Arthur Schopenhauer 38 »Kunstgriffe« vor, »so zu disputieren, dass man Recht behält, also per fas et nefas (mit Recht und Unrecht)«; mit erlaubten und unerlaubten Mitteln, unabhängig davon, ob man inhaltlich Recht hat oder nicht. Gleich als ersten dieser Kunstgriffe nennt Schopenhauer: »Die Erweiterung. Die Behauptung des Gegners über ihre natürliche Grenze hinausführen, sie möglichst allgemein deuten, in möglichst weitem Sinne nehmen und sie übertreiben.«
Dies kann man verbinden mit dem Kunstgriff 16: »Argumenta ad hominem oder ex concessis. Bei einer Behauptung des Gegners müssen wir suchen, ob sie nicht etwa irgendwie, nötigenfalls auch nur scheinbar, im Widerspruch steht mit irgend etwas, das er früher gesagt oder zugegeben hat, oder mit den Satzungen einer Schule oder Sekte, die er gelobt und gebilligt hat, oder mit dem Tun der Anhänger dieser Sekte … oder mit seinem eignen Tun und Lassen.«
Und nun wäre man bei Ihrer Argumentation sich selbst gegenüber: Sie bezeichnen sich als Veganer, und weil diese Leder – da aus Tieren hergestellt – ablehnen, sehen Sie sich gezwungen, auch auf Leder zu verzichten. Unterm Strich wenden Sie also einen rhetorischen Kunstgriff gegen sich selbst an.
Wo steht denn geschrieben, dass Sie, wenn Sie sich bemühen, nichts »Tierisches« zu konsumieren, gezwungen sind, das bis zur Perfektion zu treiben? Es wäre in der Tat konsequent, so zu handeln wie Sie beschreiben, aber das ist nicht verpflichtend. Immer wenn man sich bemüht, irgendetwas, das man für sinnvoll hält, zu tun, etwa auf Fleisch zu verzichten oder Energie zu sparen, hört man laufend das Argument: »Dann müsstest du doch auch dies und das tun.« Nein! Wenn man an einer Stelle aus guten Gründen etwas tut oder auf etwas verzichtet, muss man es an anderer Stelle nicht zwangläufig auch machen.
Das ist nur das Argument, besser gesagt, der unerlaubte argumentative Kunstgriff derjenigen, die gar nichts tun wollen. Natürlich ist es gut, konsequent richtig zu handeln, aber es ist besser, ein bisschen was richtig zu machen als gar nichts. Und radikal zu werden ist selten gut. Mir persönlich sind Menschen, die inkonsequent richtig handeln, meist sogar lieber als die, die es mit nahezu religiösem Eifer tun und womöglich sogar missionieren.
Quellen:
Arthur Schopenhauer, Eristische Dialektik, verschiedene Ausgaben, zum Beispiel:
- Arthur Schopenhauer, Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten. Verlag Kein & Aber, Zürich 2009
- Arthur Schopenhauer, Die Kunst, Recht zu behalten: In achtunddreißig Kunstgriffen dargestellt. Hrsg. von Franco Volpi, Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1995
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Illustration: Marc Herold