Die Gewissensfrage

Darf man für ehemals deutschsprachige Orte noch ihre alte Namen verwenden?

»Muss ich mir vorwerfen lassen, revisionistisch zu sein, wenn ich für Städte in Osteuropa den ehemaligen deutschen Namen verwende? Etwa Reval für Tallinn oder Marburg für Maribor? Schließlich sagen wir ja auch Neapel und nicht Napoli. Und im angelsächsichen Sprachraum ist es auch üblich, Städtenamen zu ›übersetzen‹, etwa ›Cologne‹ oder ›Munich‹.« Johann R., Kassel

Im Film Ödipussi von Vicco von Bülow alias Loriot beginnt der 56-jährige Paul Winkelmann, dargestellt von Loriot, eine Liebesbeziehung. Paul steht jedoch unter der Fuchtel seiner Mutter, die ihn wie zu Kinderzeiten »Pussi« nennt. Den sich abzeichnenden Abnabelungsprozess stellt Loriot unter anderem dadurch dar, dass er Paul gegen diesen Namen aufbegehren lässt: »Und sag nicht immer Pussi zu mir!«

Meistgelesen diese Woche:

Loriot benutzt hier einen Mechanismus: Eine Mutter, die ihren 56-jährigen Sohn immer noch mit seinem kindlichen Rufnamen nennt, will ihre Stellung als Mutter darstellen und festigen. Die amerikanische Philosophin Judith Butler nennt das die performative Kraft der Sprache: Durch die Benennung wird derjenige, der benannt wird, verändert. Im Falle der Beibehaltung des Kindernamens also immer wieder in das Machtverhältnis der Kindheit zurückgeworfen.

Ich glaube, mit den Namen ehemals deutschsprachiger Orte verhält es sich ähnlich. Da die deutschen Bezeichnungen an die Geschichte geknüpft sind, wirft ihre Verwendung - außer bei absolut üblichen Bezeichnungen wie etwa Straßburg - den Ort in die Geschichte zurück. Und das hat tatsächlich einen gewissen revisionistischen Beigeschmack. Diese Verknüpfung gibt es bei den englischen Bezeichnungen »Munich« oder »Cologne« nicht, ebenso wenig wie beim deutschen »Neapel«.

Da Sprache und speziell Benennungen etwas mit den Benannten machen, plädiere ich dafür, generell Menschen und Menschengruppen, im weiteren Sinne damit auch ihre Städte und Länder so zu nennen, wie die entsprechenden Bewohner sich selbst nennen oder genannt werden wollen. Und das dürfte bei den früher deutschsprachigen Orten heute in den meisten Fällen der Name in der heutigen Landessprache sein.


Literatur:

Ödipussi von Vicco von Bülow alias Loriot, uraufgeführt am 9.3.1988 in Ost- und Westberlin. Mit Vicco von Bülow und Evelyn Hamann

Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006

Illustration: Serge Bloch