»In meinem Freundeskreis werde ich häufig zu Anlässen wie runden Geburtstagen eingeladen. Ich genieße das, mag aber selbst nicht Gastgeber sein, weil ich mich nicht gern feiern lasse. Habe ich dennoch eine moralische Verpflichtung, selbst einmal ein Fest zu veranstalten, um die Gastfreundschaft, die mir seit Jahren zuteil wird, zu erwidern?« Herwig L., Aachen
Die ungeschriebene Regel, dass auf eine Einladung eine Gegeneinladung zu erfolgen hat, birgt mehrere Vorteile. Sie sorgt für weitere Gelegenheiten, sich zu treffen, und führt automatisch zu einem gerechten Ausgleich des Aufwands. Daneben ist sie eine Form der Gegenseitigkeit, der Reziprozität, die viele Soziologen spätestens seit Marcel Mauss' Klassiker Die Gabe als eines der Grundprinzipien der Gesellschaft ansehen. Allein schon durch das Wissen um die Verpflichtung zur späteren Gegengabe, hier Gegeneinladung, entsteht aus Sicht der Soziologie eine Beziehung; das Band des Freundeskreises wird verstärkt. Dies alles spricht dafür, dass auch Sie eine Feier ausrichten.
Andererseits widerspricht es der Idee des Feierns, wenn der Einladende es gar nicht will, und man muss auch fragen, ob so überhaupt ein gelungenes Fest herauskommen kann. Erzwungenes Feiern scheint mir unsinnig. Wie löst man das Dilemma? Der amerikanische Soziologe Alvin W. Gouldner unterschied zwei Formen der Reziprozität: Während bei der homöomorphen Reziprozität die Gegengabe ähnlich der ursprünglichen Gabe ist, unterscheiden sich bei der heteromorphen Form Gabe und Gegengabe, sie sind lediglich im Wert gleich. Einfach ausgedrückt: Man muss nicht immer Gleiches mit Gleichem vergelten. Sie können sich also auch durch größere (Gast-)geschenke, Beiträge zur Feier oder Hilfe revanchieren. Und da Sie ohne Gegeneinladung dennoch immer wieder eingeladen werden, sind Sie vielleicht schlicht ein angenehmer Mensch, der seine Freunde allein durch seine Anwesenheit bereichert.
Es gibt aber, wenn Sie nur deshalb nicht einladen wollen, weil Sie sich nicht gern feiern lassen, eine noch einfachere Lösung: Laden Sie doch zu einem Fest ohne Anlass. Oder, noch schöner, zur Feier der gemeinsamen Freundschaft, dann stehen alle im Mittelpunkt.
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Literatur:
Alvin W. Gouldner: The Norm of Reciprocity: A Preliminary Statement, American Sociological Review, Volume 25 (1960), S. 161-178
Christian Stegbauer: Reziprozität. Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit. 2. Auflage, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011
Frank Adloff, Steffen Mau (Hrsg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005
Darin insbesondere:
Georg Simmel: Exkurs über Treue und Dankbarkeit, S. 95-108, aus: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1992, S. 652-670
Alvin W. Gouldner: Etwas gegen nichts. Reziprozität und Asymmetrie, S. 109-123
Peter M. Blau: Sozialer Austausch, S. 125-137
Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 9. Auflage 1990
Illustration: Serge Bloch