Kein Fenster zur Seele

Darf man sich darüber beklagen, wenn der Gesprächspartner eine Sonnenbrille trägt?

»Jetzt im Sommer ist wieder Hochzeit von Sonnenbrillen, oft stark verdunkelt oder auch verspiegelt. Leider nehmen viele Sonnenbrillenträger sie auch im Gespräch nicht ab, ohne zu bemerken, dass dies eine Distanz zum Gegenüber herstellt. Darf ich sie darauf aufmerksam machen und sie bitten, die Sonnenbrille im Gespräch abzunehmen, oder ist dies nicht angebracht?« Georg L., Freising

Es ist vermutlich eine der reizvollsten – und bekanntesten – kleinen Gesten der Filmgeschichte. Als Holly Golightly zieht Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany ihre Sonnenbrille nach unten und blickt mit großen Rehaugen über deren Rand. Die Bewegung kommt im Film mehrfach vor und scheint etwas über das Wesen der Figur Holly Golightly zu verraten: Die dunkle Sonnenbrille dient als Schutz der verletzlichen Holly, die sich dennoch in diesen Momenten öffnet. Zugleich gibt die Geste dem Regisseur Blake Edwards die Möglichkeit, Hollys Blick nicht nur zu zeigen, sondern die Aufmerksamkeit der Zuschauer gezielt darauf zu lenken.

Dieser Blick auf Blick und Augenmimik bleibt dem Gegenüber verwehrt, wenn jemand während einer Unterhaltung die Sonnenbrille aufbehält. Weil die- oder derjenige sich dadurch sowohl real als auch symbolisch abschottet, ist das einem tieferen Gespräch in der Tat abträglich. Wobei die Betonung auf »tieferen« liegt. Ich würde das Entbrillungsgebot nämlich nicht so absolut sehen. Es spricht wenig dagegen, sich mit dunklen Gläsern über einem Drink auf der Terrasse im Smalltalk zu üben oder entspannt zu plaudern. Und in der gleißenden Mittagssonne bringt es auch einem guten Gespräch wenig, wenn man die Sonnenbrille abnimmt, nur um mit zusammengekniffenen Augenschlitzen noch weniger voneinander zu sehen.

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Bleibt der letzte Punkt: Sollte man das Gegenüber notfalls auffordern, das Visier zu öffnen? Man muss es sich nur praktisch vorstellen: Per Sie »Nehmen Sie bitte die Brille ab« oder im formellen Rahmen scheint die Aufforderung fast unmöglich, und auch per Du hat es etwas von »Steh gefälligst gerade!« Deshalb würde ich es eher nicht sagen oder nur dann, wenn es sich im Gespräch so ergibt, dass es nachvollziehbar und deutlich netter klingt.

Literatur:

Breakfast at Tiffany’s, Regie: Blake Edwards, Premiere am 5. Oktober 1961 in New York, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Truman Capote. Deutsch: Frühstück bei Tiffany, Kinostart am 12. Januar 1962

Vanessa Brown, Cool Shades. The History and Meaning of Sunglasses, Bloombury Academic, London/New York 2015