»Vor Kurzem wollten wir im Kollegenkreis zum Abendessen gehen. Da an dem Tag die griechische Fußballnationalmannschaft spielte, beschlossen wir, ein griechisches Restaurant zu besuchen. War es verwerflich, das zu tun, weil wir insgeheim auf einen Sieg der Griechen hofften, um während des Spiels und danach Ouzo vom Wirt spendiert zu bekommen?« Kurt L., Bonn
Als Leser dieser Kolumne wissen Sie vermutlich, dass ich zwei Dinge nicht besonders schätze: Abgreifmentalität und Fußball. Ihre Frage hat somit nicht die allerbeste Ausgangsposition. Und dazu gesellt sich hier auf Seiten des Wirts auch noch nationale Begeisterung und ergänzt die beiden Dinge zu einem Trio Infernal. Allerdings treffen diese drei Phänomene auf unterschiedliche Ausmaße meiner Abneigung: Abgreifmentalität halte ich schlicht für falsch. Nationale Begeisterung für sehr zweifelhaft und vor allem gefährlich. Der Freude an öffentlichen Ballspielen stehe ich lediglich mit vollkommenem Unverständnis gegenüber, weiß aber, dass manch anderer das anders sieht.
Das Überraschende ist, dass diese desaströse Mischung am Ende doch ein relativ gutes Ergebnis hervorbringt. Denn irgendwie ist alles in sich stimmig. Und das nicht, weil die Abgreifmentalität die nationale Begeisterung ausnutzt und sich damit das Negative gegenseitig aufhebt. Vielmehr feiert der Wirt hier seinen Nationalstolz offenbar nicht nur mit Landsleuten, sondern mit jedem, der in der Nähe ist, gleich welcher Nationalität; was das Nationalgefühl abmildert und erträglich macht. Und Sie füllen ja auch die ausgegebenen Schnäpse nicht heimlich ab, um damit anschließend woanders auf die gegnerische Mannschaft anzustoßen. Sondern Sie stoßen, auch wenn es Ihnen in erster Linie um den Gratis-Ouzo geht, mit dem Wirt auf seine Mannschaft an. Und nichts anderes bezweckt der mit seinen Runden. Es ist fast ein Deal: Sie erarbeiten sich die Schnäpse als Claqueure.
Wirklich gut fände ich das alles allerdings erst, wenn Sie und der griechische Wirt sich bei einem Spiel Deutschland–Griechenland über das gemeinsame Feiern mehr freuen als über einen Sieg Ihrer jeweiligen Mannschaft. Oder darüber, etwas gratis zu bekommen.
Literatur:
Ein wissenschaftlicher Nachweis, dass die Begeisterung für das eigene Land beim Fußball zu Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit führt (gezeigt an der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland) findet sich in:
Julia Becker / Ulrich Wagner / Oliver Christ, Nationalismus und Patriotismus als Ursache von Fremdenfeindlichkeit, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.) Deutsche Zustände, Folge 5 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. S. 131-149
Eine positivere Haltung als meine zum Thema Fußball findet sich in folgenden Quellen:
Wolfram Eilenberger, Lob des Tores. 40 Flanken in Fussballphilosophie, Berlin Verlag, 2006
Wolfram Eilenberger, Chefredakteur des Philosophie Magazins schreibt auch eine Kolumne „Kabinenpredigt“ auf Zeit Online:
http://www.zeit.de/autoren/E/Wolfram_Eilenberger/index.xml
Dazu ein Interview von Wolfram Eilenberger mit dem Sportphilosophen Gunter Gebauer und dem Trainer Volker Finke: Was macht Fußball schön?
Philosophie Magazin 6/2013, online abrufbar unter: http://philomag.de/was-macht-fussball-sc... />
Gunter Gebauer, Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs, Pantheon Verlag, München 2. Auflage 2016
Stephan Geiger, Sokrates flankt. Eine kleine Philosophiegeschichte des Fußballs, Parerga Verlag, Düsseldorf 2002
Martin Gessmann, Philosophie des Fußballs. Wilhelm Fink Verlag, München 2011
Zur Kulturgeschichte des Fußballs:
Klaus Zeyringer, Fußball. Eine Kulturgeschichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014
Illustration: Serge Bloch