Wie du mir, so ich dir

Darf ich jemandem mangelnde Hilfsbereitschaft vorwerfen, wenn ich ihn selber mal im Stich gelassen habe?

»Als meine Schwester starb, war ich an der Seite meiner Nichte, habe jedoch darüber hinaus keine Hilfe angeboten, weil ich ihre Empfindlichkeit gegen Beratung kenne. Später gab sie zu erkennen, dass sie meine Hilfe vermisst hat. Jetzt befinde ich mich in einer sehr belastenden Situation, und sie hat mir auch keine Hilfe angeboten. Ist es unfair, wenn ich das kritisiere?« Jan S., Bremen

Als Erstes dachte ich, es könnte an dem bekannten Problem der goldenen Regel »Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst« liegen, dass man mit ihr anderen Menschen seine eigenen Vorstellungen überstülpt. Nur ist es hier komplizierter. Denn Sie haben sich ja, als Sie Ihrer Nichte keine Hilfe angeboten haben, ganz bewusst nicht an Ihren eigenen Vorstellungen orientiert, sondern an denen Ihrer Nichte, von der Sie eine Empfindlichkeit gegenüber Beratung kennen. Dennoch hat schon das offenbar nicht funktioniert. Und nun, da Sie sich Hilfe wünschen, bietet Ihre Nichte keine an. Das wiederum könnte tatsächlich auf der goldenen Regel beruhen, denn dieses Verhalten Ihrer Nichte würde zu der Grundhaltung passen, selbst keine Beratung zu wünschen.

Allerdings, und da nähern wir uns dem Kern des Problems, scheint diese Haltung nicht so grundlegend, wie Sie annehmen, oder es gibt ein Missverständnis darüber, wie Hilfe aussehen soll. Im Nachhinein hat sich ja herausgestellt, dass Ihre Nichte sich sehr wohl über ein Hilfsangebot gefreut hätte.

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Wenn es mit goldenen Regeln und ohne goldene Regeln nicht funktioniert, wo liegt der Fehler und damit die Lösung? Beiden Fällen gemeinsam ist schlicht die mangelnde Kommunikation. Sie wollten helfen, haben das aber nicht gesagt. Und Sie beide wollten Hilfe, haben aber nicht darum gebeten, nur um jeweils danach enttäuscht zu sein, dass Ihnen keine angeboten wurde. Warum um alles in der Welt bitten Sie nicht um Hilfe? Dabei fällt einem doch kein Zacken aus der Krone. Umgekehrt ist das Angebot von Hilfe – etwa in der Form: Falls du etwas brauchst oder reden willst, bin ich für dich da – meilenweit entfernt von womöglich ungefragten Ratschlägen. Allgemein gilt: Erst nichts zu sagen und dann zu kritisieren ist nahezu immer eine schlechte Idee.

Literatur:

Zur Goldenen Regel und ihren Problemen:

Alfred Bellebaum, Heribert Niederschlag (Hrsg.), Was Du nicht willst, dass man Dir tu' ... Die Goldene Regel - ein Weg zum Glück?, UVK Universitätsverlag Konstanz 1999

H.-H. Schrey, H.-U. Hoche, Regel, goldene, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 8, Verlag Schwabe, Basel, 1992, Spalte 450-464

Otfried Höffe, Goldene Regel, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, Verlag C.H. Beck, München 7. Auflage 2008

Eine tiefer gehende Analyse der Goldenen Regel findet sich in dem Kapitel »Was Du nicht willst... Die Goldene Regel und ihre Schwächen« in: Rainer Erlinger, Nachdenken über Moral. Gewissensfragen auf den Grund gegangen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, S. 123-160

Illustration: Serge Bloch