Marta Segura weiß aus eigener Erfahrung, dass Hitze tödlich sein kann. Sie ist als Arbeiterkind in der Nähe der Konservenfabriken von San José in Nordkalifornien aufgewachsen. Ihre Mutter arbeitete zeitlebens in überhitzten Industriebetrieben, ihr Vater als Pflücker auf den Feldern. Wer derzeit durch die Obst- und Gemüseplantagen Kaliforniens fährt, sieht, wie die Arbeiter auch bei 40 Grad im Schatten auf den Feldern sind und Tomaten oder Himbeeren ernten. »Mein Vater wäre beinahe einmal an einem Hitzschlag gestorben«, erinnert sich Segura. Es habe viele solcher Notfälle gegeben, »denn es gibt in den USA keine gesetzlichen Regelungen für Hitzewellen. Niemand schützt die Arbeiter.«
Nun hat Segura die Chance, bessere Bedingungen für Millionen von Menschen zu schaffen. Seit Juni 2022 ist sie die erste Hitzebeauftragte, amerikanisch: »Heat Officer«, von Los Angeles. Letztes Jahr machte Miami den Anfang und engagierte die langjährige Stadtplanerin Jane Gilbert als Hitzebeauftragte; inzwischen gibt es den Posten auch in Athen, in Santiago de Chile, in Freetown, Sierra Leone, und in der heißesten Stadt der USA, Phoenix. Weitere Städte wollen nachziehen.
Denn das Problem wächst weltweit: Portugal und Spanien meldeten allein im Juli, als die Temperaturen auf bis zu 45,7 Grad Celsius stiegen, mehr als 1000 Hitzetote. Auch in Deutschland nehmen die heißen Tage zu, bis zum Ende des 21. Jahrhunderts erwarten Forscher bis zu 40 Tage mit mehr als 30 Grad pro Jahr. Während sich viele Kinder auf hitzefrei und Schwimmbadbesuche freuen, sind die steigenden Temperaturen für viele Arbeiterinnen und Arbeiter, chronisch Kranke oder ältere Menschen lebensgefährlich. Im Hitzesommer 2003 starben europaweit mehr als 70 000 Menschen – es war eine der tödlichsten Naturkatastrophen in der Geschichte des Kontinents.
Hitzewellen gehören zu den wenigen Naturkatastrophen mit Ansage, für die man im Vorfeld planen kann. Doch kaum eine deutsche Kommune zeigt sich für Hitzewellen gewappnet, obwohl die WHO und zahlreiche Ärzte seit langem konkrete Strategien für die heißen Temperaturen fordern. Die Zeit veröffentlichte vor wenigen Wochen eine erschütternde Chronik der Ahnungslosigkeit, als ihre Reporter bei Ländern und Städten nachfragten. Nur jeder fünfte deutsche Landkreis hat bislang überhaupt ein Konzept entwickelt, um gefährdete Menschen schützen.
Die Ahnungslosigkeit beginnt schon bei den statistischen Fakten: Hitzetode werden, anders als Todesfälle durch andere Naturkatastrophen, kaum als solche erfasst. Ärzte sehen zwar eine Zunahme an Herzinfarkten und Kreislaufzusammenbrüchen bei Hitzewellen, aber als Todesursache steht dann eben Herzinfarkt in der Statistik und nicht Hitzetod. Auch deshalb fangen fast alle Hitzebeauftragten ihren neuen Job erst einmal damit an, verlässliche Daten zu sammeln und mit Ärztinnen und Ärzten zu reden.
In ärmeren Vierteln von L.A. sind die Temperaturen um bis zu 10 Grad höher
Marta Segura setzt wegen der Dringlichkeit zunächst auf Sofortmaßnahmen: Sie will eine Kampagne starten, um die Einwohner der Stadt auf Risiken und erste Warnzeichen von Hitzekrankheit aufmerksam zu machen. Haushalte, die sich keine Kühlung leisten können, sollen mobile Klimaanlagen erhalten, und ein »Kühlungs-Netzwerk«, an dem sich Geschäfte und Restaurants beteiligen, soll gekühlte Rückzugsräume für Menschen schaffen, denen »auf dem Weg zur Bushaltestelle schummrig wird«.
Mittelfristig geht es aber um mehr: Los Angeles plant unter anderem, Tausende von zusätzlichen Bäumen zu pflanzen, vor allem in historisch vernachlässigten Gegenden. Während der Baumbestand rund um die Villen der Reichen in Beverly Hills oder Hollywood angenehmen Schatten spendet, sind die Temperaturen in den ärmeren Vierteln um bis zu 10 Grad höher. Reiche Menschen können sich natürlich auch eher Swimmingpools oder Isolierfenster leisten. Eine kürzlich im Magazin Nature veröffentlichte Studie wies nach, dass Schwarze und hispanische Bewohner in den USA fast ein doppelt so hohes Risiko haben, den berüchtigten »urban heat islands« ausgesetzt zu sein, also den besonders heißen Flecken in einer Stadt.
Deshalb hat Segura nun besonders die ärmeren Gegenden von Los Angeles im Visier. »Bauarbeiter, Gärtner, alle, die draußen arbeiten, sind am meisten gefährdet.« Die ärmeren Gegenden sind nachweislich auch überdurchschnittlich von Umweltverschmutzung betroffen. »Afroamerikanische und hispanische Bewohner haben mehr Risikofaktoren wie Nierenkrankheiten, Herzschwächen und Asthma«, weiß Segura. »Deshalb sehen wir in diesen Vierteln auch mehr Notrufe und Todesfälle als Resultat extremer Hitze.« Gefährlich ist die Hitze übrigens nicht nur für alte Menschen: Erst vor zwei Wochen ist ein junger UPS-Bote in Los Angeles an einem Hitzekollaps gestorben.
Dass Los Angeles diese neue Stelle eingerichtet hat, hängt auch damit zusammen, dass die US-Katastrophenschutzbehörde FEMA die südkalifornische Metropole zum am meisten von Naturkatastrophen bedrohten Gebiet im ganzen Land erklärt hat – wegen der Waldbrand- und Erdbebengefahr, aber eben auch wegen den Hitzewellen. Laut offizieller Analyse ist »die Resilienz der Bevölkerung relativ gering.«
Hitze ist schon heute laut der Umweltschutzbehörde (EPA) die wetterbedingte Todesursache Nummer Eins in den Staaten. Auch deshalb haben sich viele US-Städte dem C40 Cool Cities Network angeschlossen, bei dem es um Ideen und Strategien zur städtischen Abkühlung geht. (Aus Deutschland sind Berlin und Heidelberg dabei.) Die »Urban Cooling Toolbox«, also die Möglichkeiten, die Städte zur Abkühlung haben, teilen die C40-Experten in sechs Kategorien ein: grüne Infrastruktur (wie etwa Bäume, bepflanzte Dächer, Grünflächen), blaue Infrastruktur (Brunnen, öffentliche Schwimmbäder, Seen, Teiche und Wasserspender), graue Infrastruktur (schattenspendende Baumaßnahmen, kühlende Straßenbeläge, passive Kühlung in Gebäuden), Kommunikation (Kampagnen, Information), Politik (Richtlinien, Notfallpläne, bauliche Vorschriften), und Stadtplanung (inklusive Baumaterialien und Zuschnitte von Vierteln).
Segura wird in den nächsten Monaten einen Plan entwerfen, um diese Ziele umzusetzen. Bis zu dessen Verabschiedung ist sie darauf angewiesen, gute Beziehungen zu den betreffenden Ressorts aufzubauen. Dabei hilft ihr, dass das Problem in Los Angeles bereits als dringlich erkannt wurde: »Wir ziehen alle am gleichen Strang.« Bürgermeister Eric Garcetti erklärte bereits 2015, mit Hilfe umfangreicher Baumpflanzaktionen und städtebaulicher Maßnahmen die Durchschnittstemperatur in Los Angeles bis 2035 um drei Grad senken zu wollen. Das wird er aber wohl kaum erreichen. Schließlich, das sagt auch Segura, sei Los Angeles keine Insel, sondern abhängig von der regionalen und globalen Entwicklung.
Und doch gibt es viel, was eine Stadt tun kann. Viele der Maßnahmen, etwa die Schaffung von Grünflächen, nutzen fast jeder Stadt, andere sind spezifisch. In Miami zum Beispiel ist Seguras Kollegin Jane Gilbert seit über einem Jahr als »Heat Officer« im Einsatz. »Für uns sind das größte Problem nicht nur die extrem heißen Tage«, sagt Gilbert, während sie in ärmelloser Bluse schon morgens um zehn bei 28 Grad vor der Zoom-Kamera sitzt, »sondern die chronische Hitze. Bei uns hat es auch im Winter oft knapp 30 Grad, zusammen mit der hohen Luftfeuchtigkeit macht das vielen zu schaffen.« Sie erzählt, dass erst kürzlich ein dreijähriges Mädchen starb, das bei großer Hitze im Auto warten musste. Gerade das heiße Wetter lockt dabei das ganze Jahr über Touristen nach Miami. »Wir sind eine Party-Stadt«, weiß Gilbert, und damit steige auch die Gefahr, dass Touristen zwar viel Bier, aber zu wenig Wasser trinken und dann umkippen.
Oregon hat gerade als erster US-Bundesstaat ein Gesetz verabschiedet, das Arbeitgeber dazu verpflichtet, ihre Angestellten bei Temperaturen über 26 Grad mit kühlem Trinkwasser, Schatten und Pausen zu versorgen. Gilbert schwebt für Miami etwas ähnliches vor: »Wir haben hier 300.000 Arbeiter, die im Freien arbeiten. Die müssen wir schützen.« Aber ein Gesetzesvorschlag, der dem von Oregon ähnelt, ist gerade in Florida gescheitert.
»Also müssen wir uns darauf konzentrieren, was wir vor Ort machen können«, sagt Gilbert pragmatisch. Sie plädiert dafür, Hitzewellen wie Tornados zu benennen, damit die Gefahr besser erkannt und kommuniziert werden kann. Die Bürger von Miami hätten sich bisher eher um Hurrikane und Überschwemmungen Sorgen gemacht, bei denen der materielle Schaden höher sei, gibt Gilbert zu; die Hitzegefahr sei lange unterschätzt worden. Ihr Büro ist auch nicht besonders gut ausgestattet; sie hat nur eine Mitarbeiterin und kein nennenswertes Budget. »Aber ich bin direkt der Bürgermeisterin unterstellt«, sagt Gilbert energisch, »und wenn ich mit den anderen Abteilungen spreche, wissen die, dass ich für die Bürgermeisterin spreche.«
Sie will erreichen, dass zumindest die städtischen Gebäude bald alle kühlende Dächer haben und überhaupt die Baustandards verändert werden. »Bisher hatten wir Mindestanforderungen, was die Heizung betrifft. Nun muss umgesetzt werden, dass es auch Standards gibt, was die Kühlung betrifft. Das haben wir schon seit 2001 bei den Gebäuden, die von der Stadt gebaut werden, aber nicht bei den anderen.«
Die Hitzebeauftragten der US-Städte sprechen auch mit den Bundesbehörden in Washington. Gilbert etwa berichtet von Beratungen mit dem Transportministerium, zwecks Investitionen in kühlende Straßen, oder mit der Nationalen Ozean- und Atmosphärenbehörde NOAA, bei denen es um ein Warnsystem für Hitzewellen geht.
Während Seguras Stelle aus dem städtischen Budget finanziert wird, wird Gilberts Posten von der Rockefeller Stiftung bezuschusst, im Rahmen ihres »Resilient Cities«-Programms. Dass Miami diese Stelle eingerichtet hat, kam auf Drängen der Stiftung zustande, die das Ziel verfolgt, mit der »Extreme Heat Resilience Alliance« bis zum Jahr 2030 Klimalösungen für mehr als eine Milliarde Menschen zu finden.
Wie Marta Segura hat übrigens auch Jane Gilbert eine interessante Biographie. Sie stammt ursprünglich aus Connecticut, das liegt nördlich von New York, und zog vor 27 Jahren nach Miami, weil sie wärmere Gefilde mag. Viele Jahre war sie für Umweltorganisationen in Lateinamerika, um den Regenwald und indigene Völker zu schützen. Nun wird sie am Samstag in einem der ärmeren Viertel Miamis auf der Straße stehen, um 2000 Bäume an die Anwohner zu verschenken. »Ich mag die Hitze immer noch gerne«, sagte sie, bevor sie seufzt. »Aber langsam wird es selbst mir zuviel.«