Das Problem: Die Suizidraten in der amerikanischen Marine und Navy steigen wieder.
Die Lösung: Die Armeen in Amerika, England und Neuseeland bringen ihren Soldaten Meditationstechniken bei, um ihre psychische Resilienz zu stärken und posttraumatische Belastungen abzufedern. Zwei neue Studien geben ihnen Recht.
Es ist etwas unerwartet, wenn man zum psychologischen Fitnesstraining bei der amerikanischen Armee eingeladen ist und dann statt Liegestützen erst einmal mentale Gymnastik macht: »Einatmen, ausatmen,« tönt die warme Stimme von Psychologie-Professorin Karen Reivich in Philadelphia frühmorgens über die Lautsprecher. Und 178 Sergeants in ihren Camouflage-Anzügen und Militärstiefeln schließen die Augen, sitzen mucksmäuschenstill und atmen fünf Minuten lang gemeinsam tief ein und aus.
Die Armeeärztin und Brigadegeneralin a.D. Rhonda Cornum hat das Programm vor knapp zehn Jahren nach ihrer eigenen Kriegsgefangenschaft initiiert, und die taffe Ex-Generalin überrascht mich mit der Auskunft, dass sie selbst jeden Morgen meditiert. »Hinsetzen, atmen und sich auf den gegenwärtigen Moment konzentrieren«, beschreibt Cornum ihre Stressbewältigungsstrategie. »Egal, ob man Achtsamkeit oder eine andere Methode wählt, aber man muss etwas machen, damit die Neuronen nicht unser Leben bestimmen.« Cornum lernte Achtsamkeitsmeditation kennen, als sie nach einem dramatischen Hubschrauber-Abschuss im ersten Irakkrieg und anschließender Kriegsgefangenschaft psychologisch betreut wurde. Sie fand den Effekt so positiv, dass sie dabei blieb. Sie hält »Achtsamkeit und Eigenwahrnehmung« für »essenzielle Fähigkeiten«.
Ungewohnte Töne in der Armee. Sie hätten mich nicht überraschen sollen. Schließlich entdecken gerade auch Google-Manager und Nachrichtenmoderatoren den Nutzen von Achtsamkeit für ihre Jobs und ihr Leben. Weil auf die häufigsten Behandlungen für posttraumatische Belastungen (PTBS)— Psychopharmaka und Psychotherapie — nur etwa die Hälfte der Soldaten anspricht, experimentiert aber auch das Militär mit alternativen Ansätzen, von Gehirnimplantaten, sogenannten Neuroprothesen, bis zu Methamphetaminen. Meditation hat sich als eine der vielversprechendsten Methoden entpuppt. Die Stanford-Psychologin Emma Seppälä konnte nachweisen, dass Achtsamkeitsmeditation, die sich auf den Atem konzentriert, PTBS-Symptome, Ängste und Schreckreflexe erheblich reduzieren kann. Eine weitere Studie kam zu dem Schluss, dass sich Soldaten des US Marines Corps, also der Elite-Einheit des Militärs, mit Achtsamkeitstraining von den Belastungen eines Einsatzes schneller erholen.
Ergibt es Sinn, introspektive Techniken, die traditionell im Tandem mit Ethik und Mitgefühl gelehrt werden, ausgerechnet im Militär einzusetzen?
Seit knapp zehn Jahren bietet die US-Armee ihren Soldaten eine Einführung in säkuläre Achtsamkeitsmeditation an, die im Wesentlichen daraus besteht, bewusstes Atmen zu üben. Studien zeigen, dass diese Techniken effektiv sind, um Stressmanagement und Konzentration zu verbessern, wenn jemand sie täglich mindestens zwölf Minuten praktiziert. Aber ob die Soldaten dabei bleiben oder nicht, ist natürlich ihnen überlassen. Und sie sind nicht der einzige Baustein des psychologischen Trainings: Neue Kommunikationstechniken, psychologische Beratung und die Schulung in Techniken aus der positiven Psychologie gehören genauso dazu.
Der Handlungsbedarf ist dringend: Das Ministerium, das für die Veteranen zuständig ist, schätzt, dass 400.000 an posttraumatischen Belastungen leiden – und die Behandlungsplätze reichen nicht aus. Weil die Suizidraten im Marines Corps und bei der Navy im letzten Jahr auf einen Zehn-Jahres-Rekord kletterten, wollen nun auch die Offiziere der Marines und der Navy von den langjährigen Erfahrungen ihrer Armeekollegen mit Achtsamkeitsprogrammen lernen. Die British Royal Navy und Royal Air Force bietet ihren Offizieren und ausgewählten Soldaten bereits Achtsamkeitstraining an, Neuseelands Armee hat es vor kurzem eingeführt, und andere Armeen wie etwa in Holland, denken darüber nach. Und in Berlin ging gerade ein zweitätiges Symposium der NATO zu Ende, in dem die Vertreter der Mitgliedstaaten sich auch die wissenschaftlichen Studien zu meditativen Techniken ansahen.
Da gibt es nämlich Neues: Die Psychologieprofessorin Amishi Jha an der University of Miami hat letztes Jahr im Journal Progress in Brain Research ihre Studienergebnisse veröffentlicht: Soldaten, die ein einmonatiges Trainingsprogramm absolvierten, in dem sie tägliche achtsames Atmen und Konzentrationstechniken übten, »machten weniger kognitive Fehler, konnten wichtige Informationen auch unter chaotischen Umständen herausfiltern und ihr Erinnerungsvermögen war präziser« im Vergleich zur Kontrollgruppe, die kein Achtsamkeitstraining bekam. Die Studie zeigt, dass es den Elitesoldaten nach dem Training besser gelingt, auch unter Stress einen ruhigen Kopf zu bewahren und auf Trigger oder Chaos nicht überzureagieren. Der Effekt stellte sich aber erst nach vier Wochen Training ein. »Meditieren zu lernen kann Ihre Stresserfahrung wesentlich beeinflussen«, hat auch die Neurowissenschaftlerin Dr. Hedy Kober von der Yale University herausgefunden. »Es kann nicht nur die Gehirnfunktionen während Belastungen verändern, sondern mit der Zeit auch die Gehirnstrukturen. Ein klein wenig Achtsamkeit kann viel bewirken.«
Unter den Soldaten ist die Stimmung gemischt. »Etwa ein Drittel ist sofort begeistert, ein Drittel ist skeptisch und ein Drittel will erst einmal davon nichts wissen,« hat Cornum festgestellt.
Bei meinem Besuch waren alle Meinungen vertreten. Der drahtige Ex-US Sergeant Christian Condo-Carpio etwa ist davon überzeugt, dass ihm das Achtsamkeitstraining half, seine Angstzustände nach einem Einsatz an der irakisch-kuwaitischen Grenze zu bewältigen. Das ist Jahre her, aber seitdem ist er bei der Meditation geblieben und ließ sich selbst zum Trainer ausbilden. Die Atemtechnik kann die Herzfrequenz beruhigen sowie Konzentration und Eigenwahrnehmung stärken. »Ich gönne mir einige Augenblicke Ruhe, damit ich mich darauf vorbereiten kann, welche Überraschungen mir der Job heute wieder bereiten wird«, meint er. »Ich habe durch die Techniken, die sie einem hier beibringen, neue Perspektiven gewonnen. Es gibt immer einen Weg. Ich trete einen Schritt zurück, analysiere die Situation, und das hilft mir, ein Problem zu lösen, bevor es außer Kontrolle gerät.« Sein Kamerad Michael Bourgeois dagegen gab bei meinem Besuch im Trainingslager offen zu. »Ich finde es gut, aber ehrlich gesagt, fehlt mir wahrscheinlich die Zeit dazu.«
Bedenken gibt es auch von außen: Macht Meditation Scharfschützen zu kaltblütigeren Killern? Eine jüngere Studie unter anderem der Uni Kassel schien das nahezulegen und sorgte für entsprechende Schlagzeilen. Bei genauerer Betrachtung hatten die Psychologieprofessoren da aber nur die unmittelbaren Effekte einer 12-minütigen Audio-Aufnahme auf Meditationsnovizen untersucht und nicht etwa die Resultate eines seriösen, von Experten durchgeführten Meditationstrainings. Die US-Armee ließ dagegen die Trainings von Anfang an durch Psychologen der University of Pennsylvania durchführen und – auch um vor potenziellen Kritikern die Millionen-Ausgaben zu rechtfertigen – langfristig von Experten der University of Miami wie Amishi Jha überprüfen. Denn darum geht es ja: Herauszufinden, was hilft und unter den vielen Meditationsangeboten diejenigen herauszufischen, die seriös und sinnvoll sind.
Aber ist es überhaupt sinnvoll, introspektive Techniken, die im Christentum oder in asiatischen Religionen wie dem Buddhismus traditionell im Tandem mit Ethik und Mitgefühl gelehrt werden, ausgerechnet im Militär einzusetzen?
»Genau die Soldaten brauchen es am meisten«, sagt Cornum. »Stellen Sie sich einen 19jährigen Teenager vor, der zum ersten Mal im Irak eingesetzt wird und nicht weiß, wo die Minen und andere Gefahren lauern. Genau der braucht Hilfe, seine innere Ruhe zu bewahren, am allermeisten.«
Und es gibt einen zweiten Bereich, in dem die US-Armee das Meditationstraining einsetzt – eine andere neue und doppelt randomisierte Studie hat nachgewiesen, dass Meditation bei der Bewältigung von posttraumatischem Stress mindestens genau so gut funktioniert wie traditionelle Psychotherapie. Zu diesem Schluss kamen Forscher, nach dem sie mehr als 200 Veteranen mit PTSB in San Diego mehrere Monate lang begleiteten. Aber sie betonen auch, dass es nicht für alle funktioniert und dass langfristige Folgestudien sinnvoll sind.
Deshalb wäre die sinnvollste und umfassendste Lösung nach wie vor auch die einleuchtendste: Künftige Kriege am besten ganz vermeiden.