Zehn Stunden hatte ich Frau Schneider beigestanden, hatte neben ihr am Wasserbecken gekauert, mich im Wehendelirium von ihr beschimpfen lassen, den lauten Pups, der ihr entfahren war, geleugnet (»also ich hab nichts gehört«), ihr Brechschalen hingehalten, mantraartig »Sie schaffen das« zugeflüstert und nach ihr gesehen, als ich offiziell schon keine Schicht mehr hatte und mir fast die Augen zufielen.
Als nach zehn Stunden und 21 Minuten das Köpfchen zu sehen war, holte ich den Oberarzt dazu. Drei Minuten später hielt Frau Schneider ihren Oskar im Arm. Selig, überglücklich, abgekämpft – wie ich auch.
Nie wieder hat mich die Urgewalt des Lebens so umgehauen wie bei diesen ersten Geburten, bei denen ich als Hebamme alleine im Dienst war. Ich war mit dieser Frau einen Marathon gelaufen. Doch über die Ziellinie hat sie ein anderer getragen.
Die Tür war aufgeflogen, ein weißer Kittel hereingeweht. »Dann wollen wir doch mal sehen, dass wir den Kleinen endlich herausholen«, hatte der Oberarzt in den nächtlichen Kreißsaal gepoltert. Ein Wunder, dass das Baby nicht zurück in die Gebärmutter gerobbt ist. Das ist doch kein Empfang!
Aber Frau Schneider hatte in ihrem Press-Wahn gar nichts mehr mitbekommen. Als sie das quäkende Baby wenig später im Arm hielt, lief sie fast über vor Glück, blickte erst lächelnd ihren Mann an und seufzte dann: »Vielen Dank, Herr Doktor«. Er war ihr Erlöser, weil: Als er kam, kam ja endlich auch das Kind.
Dabei war es natürlich umgekehrt: Der Arzt kam, weil das Kind kam. Bei der eigentlichen Geburt – meist sind es die letzten drei Minuten – muss in deutschen Krankenhäusern ein Arzt dabei sein. Weil man dort, anders als in Geburtshäusern oder hebammengeleiteten Kreißsälen, das Recht auf eine Arztbehandlung hat. Bis dahin darf ich als Hebamme aber alleine entscheiden - ich darf werdende Mütter noch mal heimschicken, oder dem Arzt anraten, dass sie eine PDA bekommen (legen darf sie nur er). Alles aber nur solange, wie die Geburt »regelrecht« verläuft. Was regelrecht ist, darüber gibt es Richtlinien. Die Herztöne des Kindes zum Beispiel.
Ein Arzt wiederum muss in Deutschland zu einer Geburt immer eine Hebamme hinzuziehen. Selbst bei Kaiserschnitten, obwohl wir da eigentlich gar nichts machen können, außer rumstehen und das Baby in Empfang nehmen, was ehrlich gesagt auch eine OP-Schwester könnte. Diese Hinzuziehungspflicht macht uns Hebammen natürlich selbstbewusst.
Ärzte unterstellen uns gern, dass wir Geburten als normal verkaufen, die es nicht sind. Weil wir, so ihre Annahme, solange wie möglich alleine agieren wollen. Ist vielleicht was dran. Aber wir wissen nun mal, wie lange Geburten dauern, weil wir die Frauen von Anfang bis Ende betreuen. Jemand, der die Strecke München Hamburg regelmäßig mit dem Auto fährt, kann die Distanz auch besser einschätzen als jemand, der das Flugzeug nimmt.
Neulich klagte meine Lieblingskollegin Claudia auf der Geburtstagsparty eines Kollegen, dass es für sie als Ärztin auch nicht einfach sei. Schließlich werde sie abgesehen vom großen Finale nur dann hinzugerufen, wenn alles hektisch piept und großer Alarm herrscht, und dann solle sie in Sekundenschnelle das Richtige tun. Und ja, die rechtliche Verantwortung trage auch sie, nicht wir Hebammen. Stimmt auch wieder.
Nach Frau Schneiders Geburt war ich trotzdem seltsam niedergeschlagen. Voll mit Adrenalin und Käseschmiere stand ich beim großen Finale nur noch am Rand. Jemand anderes hatte das Kommando übernommen. Als ob Manuela Schwesig im Bundestag eine Rede hält, dann kommt Sigmar Gabriel, schiebt sie zur Seite und sagt: »Danke, ich mach das jetzt zu Ende.« Alle Hebammen, die ich kenne, können solche Geschichten erzählen, von Ärzten, die den Patientinnen im Beisein der Hebammen vermitteln. »Bis hierhin war nur pillepalle. Jetzt bin ich da.«
Was mein Verhältnis zu den Ärzten nicht einfacher macht: Ich hätte selbst gern Medizin studiert. Ich gebe es zu. Ich hatte ein sehr gutes Abi, sogar mit einer 1 vornedran, aber der NC war überirdisch. Ich habe dann Jura durchgezogen, das war auch okay.
Aber mein Wissensdurst, meine Faszination für alles Medizinische ist ungebrochen. Bewusst habe ich mich bei einem Krankenhaus beworben, das auf komplexe Fälle spezialisiert ist: Frühgeburten bei HIV-positiver Mutter und Beckenendlage des Kindes sind bei uns nichts Ungewöhnliches. Am meisten mag ich es, wenn der alte Professor Dienst hat. Ihm zuzuhören, ist wie eine Medizin-Vorlesung im zehnten Semester. Oft tippe ich noch im Rausgehen aus dem Kreißsaal-Begriffe, die er gesagt hat, in mein Handy, um sie nach Feierabend nachzuschlagen.
Vielleicht ärgert es mich aus dieser heimlichen Bewunderung heraus so, wenn Ärzte so selbstherrlich sind. Erst neulich hat ein 27-jähriger Assistenzarzt, der erst seinen dritten Kreißsaal-Dienst schob, meine Kollegin Irmgard zusammengefaltet, die Dienstälteste bei uns – sie hat bestimmt 10 000 Kinder zur Welt gebracht. Der Kollege konnte noch nicht mal den Muttermund abtasten.
Mein Verhältnis zu den Ärzten lässt sich derzeit unter »herrsche heimlich und teile dein Wissen« zusammenfassen. Bis jetzt geht meine Strategie ganz gut auf. Ich war bei einer Frühgeburt dabei, Tobi, ein anderer Assistenzarzt, sollte sie leiten. Süß überfordert sah er aus, Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Natürlich wollte er vor seinem Oberarzt, der sich im Hintergrund hielt, auf keinen Fall dumm dastehen. Am Ende vergaß er etwas Entscheidendes, die Infektionsprophylaxe. Nickend und extra laut sagte ich zu ihm: »Ich bereite schon mal« – zwinkerzwinker – »die Antibiose vor, die wollten wir« – das Wir betonte ich – »doch auch noch geben, oder?« Eines können wir Hebammen nämlich noch besser als Kinder auf die Welt bringen: Ärzte gut aussehen lassen. Am Ende seiner Schicht kam Tobi auf mich zu und meinte: »Danke für vorhin. Das war gute Teamarbeit. Wollen WIR – Zwinkerzwinker – nachher noch was trinken gehen?«