»Wenn du dich traust, isst du mit uns«, sagt Theresia und drückt mir einen Löffel in die Hand. Das Mittagessen auf der Alpe Obere Falz gibt es an einem großen, graugescheuerten Tisch, der in der mächtigen Sennstube steht: der Ort, wo der Käse gemacht wird. Links ein Stall, rechts ein Stall, und durch die offene Tür der herzerwärmende Blick auf die »anthropogenen Grasberge« des Bregenzerwalds, so nennt der Alpenvereinsführer die in allen Grünschattierungen schimmernden Hügel dieser Landschaft zwischen Bodensee, Allgäu und Arlberg.
Stimmt schon, ein Wald ist der Bregenzerwald längst nicht mehr. Seine Bewohner haben aus bewaldeten Berghängen an vielen Orten Weiden gemacht, damit sie die Kühe im Frühjahr vom Tal aufs Vorsäss hinauftreiben können, die Almen in Mittellage. Im Sommer geht es dann noch höher hinauf auf die Hochalp. Klassische Dreistufenwirtschaft, »umfassende Nutzung der gesamten Vegetation des Lebensraums über die Höhenstufen im alpinen Raum« – steht im Alpenvereinsführer.
Draußen bimmeln die Kuhglocken, drinnen glänzt der Kupferkessel, in dem Theresia Schneider mit der Milch von heute Morgen zwei Laibe Alpbergkäse zu je 30 Kilo hergestellt hat. Sie ist berühmt für diesen Käse. Er ist mild und doch gehaltvoll, salzig und schmeckt fein nuanciert. Georg Schneider, Theresias Mann, sitzt schon am Tisch. Es gibt, wie jeden Tag, Sennsuppe, oder wie der Einheimische sagt, »Seagen«.
Sennsuppe ist ein Nebenprodukt eines langen Sennenvormittags, an dem zuerst Butter und dann Alpkäse gemacht wurde. Im Kessel verbleibt stets die Molke, in der sich noch Eiweiß befindet, das bei hoher Temperatur ausflockt, als Theresia mit Schwung noch etwas vergorene Molke dazu in den Kessel schüttet. Erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit sie die sauschweren Kannen und Bottiche bewegt, und nein, »am Kreuz hab ich’s nicht«, sagt sie mit derselben Heiterkeit, mit der sie prüft, ob das Eiweiß im Kupferkessel schon verklumpt.
Das Eiweiß bildet merkwürdige Strukturen, wie Windungen eines riesigen Gehirns. Das ist die Sennsuppe. Sie sieht merkwürdig aus, aber sie schmeckt gut, sanft, süß, delikat, und natürlich traue ich mich, sie zu essen. Theresia nimmt es zufrieden lächelnd zur Kenntnis. Anschließend probiere ich ihren Hartkäse mit Brot und Butter. Wenn der Käse gepresst ist, liegt er drei Tage in Salzlake, dann kommt er in den dunklen, kühlen Reifekeller hinter der Sennstube und bekommt die Zeit, die er braucht, um seinen typischen, individuellen Geschmack auszuprägen.
Der Bregenzerwald ist berühmt für seinen Bergkäse. Die Kühe bekommen in der gesamten Region nur Gras oder Heu zu fressen, kaum Kraftfutter und keinen Silo – das in Ballen konservierte Heu, das in seinem Plastikgewand zu gären beginnt und aus der Sicht der Käseerzeuger minderwertiges Futter abgibt. Der Käse wird traditionell verarbeitet und geschickt vermarktet: »Vorarlberger Bergkäse« ist zu einer wertvollen Marke geworden. Die Produzenten, die ich besuche, sind jedoch Selbstvermarkter. Sie suchen konsequent auf dem handwerklichen Weg das Außergewöhnliche, noch Bessere. Ihr Käse ragt weit über den Durchschnitt hinaus.
Mein erstes Stück Alpkäse habe ich heute auf dem Rehenbergvorsäss gegessen, etwas oberhalb von Egg, eine halbe Stunde von Theresia Schneider entfernt. Die Holzhäuser und -ställe des Alpdorfs sind über den ganzen Hügel verstreut. Oben am Weg steht eine holzgeschindelte Kapelle, vor der sich die 14 Familien, die hier leben, am Sonntag zum Rosenkranzbeten treffen. Mit anschließendem Frühschoppen.
Nilsson, der Senn, der aus Brasilien stammt, schaut mir aufmerksam zu, als ich den elf Monate alten Bergkäse aus der Reifekammer koste. Erst nachdem ich den reichen, vielschichtigen Geschmack gelobt habe, kostet er selbst und nickt mir zu. Okay. Oder wie man hier sagt: Passt.
Nilssons Sprache ist eine lustige Mischung aus Portugiesisch und dem gutturalen Alemannisch der Bregenzerwälder. Der Brasilianer verdingte sich zuerst als Knecht, bis er sich zum Senn hinaufarbeitete, zehn Stunden Arbeit pro Tag, sieben Tage pro Woche. Kein Fernsehen, kein Internet, das Vorsäss liegt im Funkloch. Senn ist ein Handwerk, das von der Gewerkschaft verbotenes Durchhaltevermögen und esoterisches Fingerspitzengefühl verlangt. Denn die Milch hat Launen.
Sie ist jeden Tag anders, weil das Wetter wechselt oder weil die Kühe auf unterschiedlichen Wiesen geweidet haben. Sie reagiert im Kessel geringfügig, aber doch spürbar unterschiedlich. Nilsson hält dann die Arme tief in den Kessel, und prüft, ob die Milch schon frischer Käse geworden ist. Dann entscheidet er mit geschlossenen Augen, ob er ihm noch Zeit geben soll.
Jedes Stück Bergkäse ist ein Einzelstück. Das ist die wichtigste Lehre, die ich von dieser Station meiner Tour mitnehme. Ein Stück Butter kann zum Beispiel intensiv nach Bärlauch schmecken, wenn die Kühe am Tag davor im Bärlauch geweidet haben, und auch jeder Laib Bergkäse ist nichts anderes als eine Momentaufnahme des Kuhfutters und der Aromen, die sich bei der Reifung durchgesetzt haben. Winzer würden das »Terroir« nennen, das Gegenteil von Industrialisierung, deren Kernaufgabe darin besteht, stets das messbar gleiche Produkt herzustellen, heute, morgen, übermorgen.
Bei Leo Feuerstein, der seinen Käse auf der Vorderen Niedere macht, fast einen Tagesmarsch vom Rehenbergvorsäss entfernt, dominiert eine Sanftheit im Bergkäse, die durch die spezielle Flora der Niedere geprägt ist: Huflattich, Frauenmantel, Alpen-Kuhschellen, Sumpfdotterblumen, Trollblumen. Die Butter ist derzeit gerade goldgelb, weil die Kühe so viel Löwenzahn fressen. Leo, ein schlanker, elastischer Mann von sechzig Jahren, betreibt mit seiner Frau Irene ein Ausflugsrestaurant, wo es Schnitzel und Würste gibt und wo eine Gesellschaft von Ausflüglern, die ihre Lederhosen zu T-Shirts tragen, auf denen »Woodstock der Blasmusik« steht, Unmengen von Radlerflaschen trinken. Der in Zellophan verpackte Käse an der Selbstbedienungstheke sieht auf den ersten Blick aus wie irgendein Gummibergkäse in irgendeinem Supermarktregal.
Aber Leo Feuerstein ist ein sehr gewissenhafter Senn auf den Alpen des Bregenzerwalds, und sein Käse ein Spezialfall. Während dieses Sommers wird er aus etwa 35 000 Liter Milch rund 3500 Kilo Bergkäse produzieren und diesen bis zu 18 Monate reifen lassen, zwölf Monate länger als die meisten anderen, damit der Charakter des Käses mit dem Faktor Zeit multipliziert wird, außerordentlicher Aufwand, außerordentliches Ergebnis.
Leos Käse ist mild und voll, rahmig und von einem tiefen Reifegeschmack, der lang anhält und nicht scharf ist, sondern schmeichelnd und weich, Ausdruck der Landschaft und des Eigensinns derer, die sie bewirtschaften.
»Jo«, sagt Leo. »Ein Einzelstück.«
Fotos: Robert Voit