Topfgefühle

Vier Menschen, die in Deutschland im politischen Exil leben, erzählen von ihren Lieblingsrezepten aus der alten Heimat – und davon, wie diese Gerichte ihnen Trost spenden.

Die äthiopische Journalistin Fatuma Nurye Yimam in ihrer Küche. Samstags backt sie hier Chechebsa.

Fatuma Nurye Yimam, Journalistin aus Äthiopien, Berlin: Chechebsa

Butter, Honig und Berbere, eine äthiopische Gewürzmischung, verwandeln Pfannkuchen in Chechebsa.

»Meine Großmutter Amina brachte mir bei, traditionell äthiopisch zu kochen. Ihr war es wichtig, mich auf die Ehe vorzubereiten. In Äthiopien werden die meisten Ehen arrangiert. Ist die Auserwählte eine schlechte Köchin, kann es passieren, dass die Hochzeit abgesagt wird. In Äthiopien heiraten Mädchen oft schon mit 14 Jahren. Mit elf lernte ich, Chechebsa zuzubereiten, ein heißes Getreidegericht mit flüssiger Butter, das stark machen soll. Der Tradition nach kochen es frisch verheiratete Frauen für ihre Ehemänner, damit der Mann nach der Hochzeitsnacht wieder zu Kräften kommt. Und Mütter kochen Chechebsa für ihre Kinder zum Frühstück. Man mischt Eier, Milch, Salz und Mehl zu einem Teig und backt alles zu dünnen Pfannkuchen. Die Pfannkuchen reißt man in kleine Stücke, anschließend zerlässt man Butter und Honig in einer heißen Pfanne und vermengt es mit Berbere, einer äthiopischen Gewürzmischung, die aus Chilipfeffer, Knoblauch, Ingwer, Bockshornklee und Basilikum besteht und aus den Gewürzen Korarima, Raute, Ajwain und Nigella. Danach wird alles gut gemischt.

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Solange ich studierte, lehnten meine Oma und meine Mutter alle Männer ab, die um meine Hand anhielten. Als ich mit 22 Jahren meinen Mann Oumer heiratete, war meine Großmutter schon verstorben. Ich traf Oumer während meiner Arbeit als Journalistin in einem Café, in dem ich den Akku meiner Videokamera aufladen wollte. Er schlug mir vor, den nächsten Dokumentarfilm in seiner Heimat zu drehen, der Region Afar. Ich folgte seiner Einladung und war auch 2014 in Afar, als ich im Fernsehen sah, dass nach mir gesucht wird. Die Regierung des Premierministers Hailemariam Desalegn versuchte, unliebsame Journalistinnen mundtot zu machen, indem er sie unter dem Anti-Terrorismus-Gesetz anklagte. Mit 23 Jahren war ich damals Chefredakteurin der kritischen Zeitschrift Fact und recherchierte über illegale Migrationsrouten von Äthiopien in den Sudan und nach Dschibuti. Ich hatte gehört, dass Frauen in Haft vergewaltigt und gefoltert wurden, nun musste ich selbst nach Dschibuti fliehen. Äthiopien betrat ich zuletzt, als ich von Dschibuti nach Kenia floh. Oumer begleitete mich, meinetwegen ließ er seinen Job, seine Familie, sein Land zurück.

Seit August 2017 leben wir in Berlin. Wir haben zwei kleine Kinder, einen dreijährigen Sohn und eine fast zweijährige Tochter. Samstags koche ich zum Frühstück Chechebsa. Wenn ich die Gewürze schmecke, erinnere ich mich an meine Oma und bin voller Freude über meine eigene Familie.«

Doğan Akhanlı, Dissident und Autor aus der Türkei, Köln: Şor-Käse

Foto: Türkan Kentel

Foto: privat

Viele Jahre lang konnte Doğan Akhanli den Şor-Käse seiner Heimat nicht essen – aus Trauer.

»Adnan Keskin und ich haben uns in den Siebzigerjahren kennengelernt, in einer Zeit, als das Militärregime Tausende Menschen ins Gefängnis steckte. Auch ich wurde 1975 beim Kauf einer linken Zeitung verhaftet. Nach fünf Monaten mussten sie mich aus der Haft entlassen, aber seitdem ist die Türkische Republik für mich ein Unrechtsstaat. Adnan, der wie ich aus der Region Şavşat im Nordosten der Türkei kommt, an der Grenze zu Georgien, sah das ähnlich, und gemeinsam zogen wir 18-jährige Jungs von Ort zu Ort, um die Dorfleute für die Revolution zu gewinnen. Nach dem Winter begannen wir getrennt voneinander in größeren Städten Pädagogik zu studieren und schlossen uns marxistischen Gruppen an.

1980 wurde Adnan nach dem Militärputsch festgenommen. Er brach nach sieben Jahren Militärgefängnis aus, mit acht weiteren Gefangenen hatte er einen 85 Meter langen Tunnel gegraben. Auch ich wurde 1985 wieder verhaftet – wegen des Besitzes illegaler Zeitschriften und Flugblätter sowie wegen Fluchthilfe ins Ausland. Ein Jahr nach meiner frühzeitigen Entlassung wurde mein Urteil 1988 auf 20 Jahre erhöht.

Also organisierte Adnan, der bereits seit 1987 in Köln lebte, von Deutschland aus unsere Flucht. Er verschaffte meinem Sohn und mir gefälschte Pässe, mit denen wir in ein Flugzeug nach Deutschland steigen konnten. Meine Frau und meine Tochter holten wir später nach. Seitdem verbrachte ich jeden Sonntag zu Hause bei Adnan und seiner Frau Nese. Und wenn wir zusammensaßen, aßen wir immer den schmelzigen Şor-Käse unserer Heimat.

In meinen 28 Jahren in Deutschland ist mein Heimweh nie ganz weggegangen. Irgendwann wurde die Sehnsucht nach meinem Geburtsort sogar so stark, dass ich das Gefühl hatte, mein Dorf nur erfunden zu haben. 2010 hielt ich es nicht mehr aus und nahm ein Flugzeug in die Türkei.

Bei meiner Ankunft wurde ich sofort verhaftet. Der Vorwurf, ich sei an einem Raubüberfall beteiligt gewesen, war absurd und hatte vor Gericht keinen Bestand, also kehrte ich zurück nach Deutschland, zu meiner Familie und zu Adnan. Auch er hatte eine unglaubliche Sehnsucht nach unserer Heimat, und so bauten wir Sonntag für Sonntag mit dem Käse eine Brücke zwischen Köln und Şavşat. Wenn Adnan und ich den Käse aßen, sprachen wir mit dem weichen Dialekt unserer Region und kamen in eine alberne, kindliche Stimmung.

Wir wussten damals nicht, dass wir beide krank waren. Im Herbst 2013 wurde ich während einer Vorsorgeuntersuchung sofort ins Krankenhaus überführt und am Herzen operiert. Als ich auf der Intensivstation aufwachte, stand Adnan vor mir. Ich bat ihn, sich auch untersuchen zu lassen. Er rauchte noch mehr als ich und hielt sich beim Trinken nicht zurück. Zwei Wochen vor seinem Arzttermin hörte sein Herz auf zu schlagen. Sein Tod kam so plötzlich und war so schmerzhaft, dass seine Frau Nese und ich aufhörten Şor-Käse zu essen. Bis im vorigen Jahr meine 80-jährige Tante und zwei meiner Schwestern mit Koffern voller Käse aus der Türkei zu Besuch kamen. Sie blieben 14 Tage, und wir aßen ihn jeden Tag. Seitdem essen auch Nese und ich wieder gemeinsam Şor-Käse, sie löst ihn wie früher in Butter und Wasser auf, und wir reden über Adnan. Es sind friedliche und lustige Erinnerungen, wir lachen viel.«

Liao Yiwu, Schriftsteller aus China, Berlin: Mapo-Tofu

Liao Yiwu würde gern in sein »gemütliches Sichuan« zurückkehren. Aber nicht unter kommunistischer Herrschaft.

Liao Yiwu: »Beim Schreiben bekomme ich Heimweh, beim Kochen von Mapo-Tofu bekomme ich Glücksgefühle«

Neben Tofu sind Hackfleisch und Chili die Hauptzutaten von Mapo-Tofu.

»Ich komme aus der Provinz Sichuan im Südwesten von China. Dort sagt man, dass ein Schriftsteller nicht nur schreiben, sondern auch kochen können muss. Früher dachte ich, das sei Quatsch. Heute verstehe ich es. Beides sind Kunstformen. Es reicht nicht, nur die Zutaten zu kennen. Um etwas daraus zu machen, muss man das Handwerk beherrschen. Ich koche jeden Tag für meine Familie und möchte behaupten, dass ich ein begabter Koch bin: Ich weiß, wie man die Hitze regulieren muss und wie viele Chilis man braucht, damit Mapo-Tofu, ein Eintopf mit Tofu und Hackfleisch, nicht nur scharf ist, sondern auf der Zunge prickelt. Sichuan liegt in einem Tal, dort ist es das ganze Jahr über feucht. Das scharfe Essen bringt die Menschen zum Schwitzen und treibt ihnen die Feuchtigkeit aus.

Ich war ein Kind, als ich zum ersten Mal Mapo-Tofu aß. Es war die Zeit der chinesischen Kulturrevolution. Gegenüber unserer Wohnung war ein Restaurant, eine Bude aus grauen Holzbrettern, das nur dieses eine Gericht anbot. Der Koch war über siebzig und saß im Gefängnis, zweimal die Woche durfte er mittags raus, um zu kochen. Dann kamen alle hergelaufen und warteten, bis er mit einem großen Topf herauskam. Jeder Gast bekam nur ein Schälchen und wir Kinder nur einen Löffel von unseren Eltern. Nachschlag gab es nie. Wer zu spät kam, ging leer aus.

Hunger war mein erster Lehrmeister. Ich wurde 1958 geboren, kurz vor der großen Hungersnot. Wegen des Hungers konnte ich mit vier Jahren noch nicht richtig laufen, aber der Hunger hat auch meinen Geschmack geschärft und die Art bestimmt, wie ich schreibe. In China sind meine Bücher verboten. Vor dem Massaker vom 4. Juni 1989 am Tian’anmen-Platz, dem Platz des Himmlischen Friedens, hatte ich als unpolitischer Dichter gearbeitet. Doch die Gewalt vom 4. Juni politisierte mich. Ich schrieb das Gedicht Massaker und sprach meine Worte auf Tonband: ›Man dreht dich durch den Fleischwolf, du schreist. Restlos verputzt von einem Hund, schreist du noch aus dem Hundebauch. Schrei. Dieses beispiellose Massaker überleben nur die Hundesöhne.‹ Die Kassetten wurden in mehr als zwanzig Städten verbreitet. Neun Monate später verhafteten sie mich wegen ›Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda‹. Im Gefängnis wurde ich gefoltert. Das Schreiben half mir, meine Erfahrungen zu verarbeiten. 2011 gelang es mir, China zu verlassen.

Wenn ich heute von Berlin aus nach China blicke, ist meine größte Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. Vor dem Tian’anmen-Massaker waren überall Polizisten, ich habe die Gewalt geahnt. Seit den Protesten in Hongkong sind auch dort die Straßen voller Sicherheitskräfte. Die chinesische Regierung benutzt die gleiche Sprache wie damals, sie nennt die Studenten ›gewalttätige Terroristen‹. Niemand weiß, was kommen wird. In Deutschland darf ich schreiben, was ich will. Die reine Freiheit. Solange meine Bücher gelesen werden und ich weiterschreiben kann, will ich mich für Menschen einsetzen, die noch nicht in Freiheit leben.

Natürlich kann ich mir vorstellen, nach China zurückzukehren, in mein gemütliches Sichuan, wo meine Mutter und meine Verwandten leben. Aber nicht solange die Kommunistische Partei an der Macht ist und es in China eine Diktatur gibt. Beim Schreiben bekomme ich Heimweh, beim Kochen von Mapo-Tofu erlebe ich Glücksgefühle. Dann bin ich ganz im Moment, beim Duft der Chili, bei den zischenden Geräuschen der Pfanne, und ich denke an die alte Frau, die das Gericht zur Kaiserzeit erfunden haben soll. Sie war keine Schönheit, Mapo heißt übersetzt ›pockennarbige Alte‹, aber ihr Essen wird seit Jahrhunderten gekocht. Für mich ist es die größte Freude, wenn ich sehe, dass mein Mapo-Tofu allen schmeckt. Dann konnte ich Sichuan nach Berlin bringen.«

Olga Romanova, Journalistin aus Russland, Berlin: Salat Olivier

Foto: privat

Foto: privat


Seit Olga Romanova in Berlin lebt, macht sie ihren Salat Olivier mit Pute: Viele ihrer Freunde sind Muslime.

»Salat Olivier gehört in Russland zu jedem Fest. Jede Familie hat ihr eigenes Rezept. Ein französisch-belgischer Koch namens Lucien Olivier hat das Gericht im 19. Jahrhundert für den russischen Adel erfunden. Er verwendete unter anderem Flusskrebse und Kaviar. Exquisite Zutaten, die man zu Sowjetzeiten nirgends bekam, also benutzten die Menschen Dosenerbsen und ersetzten die Flusskrebse durch Schinken. Meine Mutter verwendet Konservenerbsen, ich nehme frische Erbsen und mische noch Apfelstücke für den Geschmack unter. Den Schinken koche ich, genauso wie Kartoffeln, Karotten und Eier. Dann würfle ich alles und gebe Gewürzgurken und Zwiebeln dazu. In einer großen Schüssel vermische ich die Zutaten mit Mayo. Zum Schluss kommt meine geheime Zutat: Worcester-Sauce.

Mein Ex-Mann Alexej Kozlov wurde 2008 wegen versuchter Geldwäsche und Betrugs zu acht Jahren in einer Strafkolonie verurteilt. Ich tat alles, um seine Unschuld zu beweisen: Ich gab Interviews, postete auf Social Media, stellte Journalisten seine Falldokumente zur Verfügung und gründete schließlich die regierungskritische Organisation ›Russland hinter Gittern‹, die sich vor allem für politische Gefangene einsetzt.

2011 wurde er entlassen, aber ein Jahr später wieder verurteilt. Zunächst zu fünf und im Jahr darauf zu vier Jahren Haft. Kurze Zeit später kam er aber wieder frei. Dann kehrte für ein paar Jahre relative Ruhe ein. 2017 durchsuchte die Staatsanwaltschaft das Büro von ›Russland hinter Gittern‹ in Moskau. Als Aktivistin, die für die Rechte von Gefangenen kämpft, wusste ich, dass in Russland auf Durchsuchungen meistens Gefängnis folgt.

Deshalb floh ich im Juni 2017 nach Berlin. Mein Mann blieb zunächst in Moskau, um die Stiftung zu leiten. Mittlerweile sind wir getrennt. Mein neuer Freundeskreis ist bunt, viele meiner Berliner Freunde flohen vor Assad aus Syrien, mein neuer Partner Dilschad ist Türke. Weil viele von ihnen Muslime sind, hat sich auch das Rezept für meinen Salat Olivier verändert: Statt Schinken aus Schweinefleisch verwende ich jetzt Pute – und der Salat schmeckt noch besser.

›Russland hinter Gittern‹ gibt es noch, wir haben inzwischen 49 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in verschiedenen Städten. Ich führe die Organisation so gut es geht aus Berlin, hier habe ich eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Mein Status in Russland ist unklar, in den vergangenen zwei Jahren wurde mein Fall 13 Mal wiedereröffnet und zwölf Mal wieder geschlossen. Momentan bin ich in Russland nicht sicher, aber manchmal muss ich vor Ort sein. Vor einigen Wochen war ich in unserem Büro in Jaroslawl, als mich kurz vor meiner Abreise ein Ermittler anrief und für den kommenden Tag zu Befragungen in sein Büro bestellte. Zum Zeitpunkt der Befragung war ich schon wieder in Deutschland, aber die Passkontrolle wurde zu 15 angstvollen Minuten.

Für mich als Russin waren Mutterland, Heimat und Familie immer dasselbe. Ich wusste nicht, dass man sie trennen kann. Aber wenn ich heute in ein Flugzeug nach Deutschland steige, sagt immer öfter eine Stimme in mir, dass ich nach Hause fliege. Nun wohnt seit Oktober auch meine Tochter Anna in Berlin. Das heißt, meine Familie und meine Heimat sind mittlerweile in Deutschland. Mein Mutterland aber bleibt Russland. Eines Tages will ich dort sterben.«