An der Wand von Merlins Küche hängt eine Stahltafel, eine Spalte für jeden Wochentag, in jeder ein Magnetclip mit der Abbildung einer Shampoo-Flasche, die steht für Duschen. Merlin hat das Downsyndrom, er braucht diese Erinnerungsstütze, weil er Termine manchmal vergisst. Es gibt auch Clips für Tanzen, Schwimmen, Putzen, die Eltern. Ein Clip für Marlene klebt auf Montag, heute, sie treffen sich.
Merlin, 24, Nerdbrille, Ziegenbart, hat eine eigene Wohnung in Wuppertal, lernt Beikoch in einem Altenheim. Er wird länger brauchen als andere Auszubildende, viereinhalb statt drei Jahre, Rechnen und Lesen sind nicht seine Stärken. Aber er ist auf einem guten Weg. Schafft er den Abschluss, kann er in einem regulären Job seinen Lebensunterhalt verdienen. In seinem Wohnzimmer hängt ein Bild, das etwas aussagt darüber, warum er das geschafft hat, trotz seines Handicaps: eine gerahmte Collage aus Fotos, auf denen er zu sehen ist – und immer wieder Marlene. Marlene, 24, braune Augen, blond gefärbte Haare, nicht behindert, ist seine beste Freundin.
Seit Merlin zwei Jahre alt war, lebt seine Mutter mit einem Fotografen zusammen. Er hat Merlin und Marlene oft fotografiert. Die Bilder zeigen zwei Kleinkinder nebeneinander in Kinderwagen, fünfjährige Kinder, als Vampire geschminkt, Jugendliche, die ihre Finger zum Peace-Zeichen spreizen. Oft berühren sich die Köpfe von Merlin und Marlene, ob sie große Rockstar-Sonnenbrillen tragen oder Schlapphüte oder dreinschaun wie ein Gangsterpaar. »Da haben wir Faxen gemacht«, sagt Merlin. Seine Aussprache ist verwaschen, manchmal bleibt er hängen mitten im Satz, als würde er das Wort kennen, es wollte aber nicht heraus.
Es klingelt, Merlin öffnet, jauchzt: »Marlene!« Er breitet die Arme aus, sie drücken sich wie zwei, die sich lange nicht gesehen haben, dabei haben sie gestern einen Ausflug zusammen gemacht. Dann sitzen sie auf der Couch, schauen Fotoalben an. Sie kennen sich, fast seit sie geboren wurden, ihre Mütter sind eng befreundet. Auch als sie älter wurden, sich selbst aussuchen konnten, mit wem sie ihre Freizeit verbringen wollten, blieben sie Freunde. Einmal nur, da waren sie noch klein, stritten sie erbittert, wer älter sei. Bis Merlins Mutter schlichtete und sagte, dass Marlene sieben Wochen älter ist.
Merlin startet ein Video auf seinem Flachbildfernseher. Es zeigt Merlin und Marlene mit neun: Sie spielen Wetten, dass ..? nach, Marlene ist Thomas Gottschalk, Merlin Jon Bon Jovi. Statt Gitarre hält er einen Federballschläger in der Hand. Marlene fragt: »Jon, wann hast du angefangen, Gitarre zu spielen?« Merlin, ein kleiner Junge mit einer Brille, die bis zur Nasenspitze nach vorn gerutscht ist, antwortet in überdrehtem Fantasie-Englisch. Marlene übersetzt: »Sein Vater hat ihn früh gezwungen, Gitarre zu spielen …«
Im letzten Jahr kam der hochgelobte spanische Film Yo, también (Wer will schon normal sein?) in die Kinos. Ein Mann mit Downsyndrom verliebt sich in eine nicht behinderte Frau, einmal schlafen sie miteinander, aber eine Beziehung bleibt unmöglich. Fragt man Merlin, was er an Marlene mag, sagt er: »Sehr hübsches Mädchen – und sie macht Witze und lacht mit mir!« Aber verliebt, nein, er schüttelt energisch den Kopf, verliebt sei er nie in sie gewesen, Marlene hat einen Freund. »Sie ist meine beste Freundin, das reicht.«
Merlin trägt Skater-Look, Sportschuhe, Dreiviertelhose, T-Shirt. Marlene hat die Klamotten mit ihm in Köln gekauft. »Ich suche Sachen aus, werfe sie ihm in die Kabine«, sagt sie. Sie gehen auch ins Kino. Merlin lacht laut, wenn es lustig ist, bei traurigen Stellen weint er schon mal. »Er ist mein emotionaler Freund«, sagt Marlene. Das heißt nicht, dass sie ihm ihre Probleme erzählt. »Wir reden eher über Castingshows«, sagt sie.
Für Montagabend steht auf Merlins Stundenplan: Zwei Häuser weiter, in einem kurdischen Restaurant, gefülltes Fladenbrot holen. Er schlurft durch die Gaststätte, grüßt die Bedienung, umarmt den Chef. Die Leute hier im Viertel kennen ihn fast alle – und sie mögen ihn wegen seiner offenen Art. Er ging zur Grundschule, dann zur Hauptschule, zu Ferienfreizeiten, in Sportvereine. »Ich an seiner Stelle hätte längst aufgegeben«, sagt Marlene. »Ich bewundere ihn für die Hartnäckigkeit, mit der er unbedingt seinen Abschluss als Koch machen will.« Vor Kurzem waren Merlin und Marlene auf einer Geburtstagsfeier. »Nach einer Stunde hat Merlin gesagt: ›Langsam könnten wir mal fahren‹«, erzählt Marlene. »Er hat eine wunderbar direkte Art, zu sagen und zu tun, was er will. Mir ist das verloren gegangen beim Erwachsenwerden.«
Fotos: Uwe Schinkel