Vor einigen Jahren war ich mit meinem Cousin Chen in Shanghai. Er war seit seiner Kindheit nicht mehr da. Entsprechend nervös war er, wie sich die Stadt seiner Erinnerung verändert hat. Oder er. Von seiner Kindheit weiß er nicht mehr viel, aber was sich in sein Gehirn eingebrannt hat, waren Lammspieße. Wenn wir quatschen, landet jedes Gespräch irgendwann bei diesen Lammspießen. Kaum ist da eine Gesprächspause, haucht er mit der Stimme eines Sterbenden: Weißt du noch … Lammspieße. Sein Blick wird glasig wie bei einem Corona-Kranken, der seinen Geschmackssinn verloren hat und davon träumt, wieder in einen frischen Apfel zu beißen. Er erzählt vom Fleisch, kross gegrillt und gleichzeitig butterzart; von den Gewürzen, Chilipulver und Kreuzkümmel, die Samba auf der Zunge tanzen; vom Grillfeuer, das am Fett leckt und den Spieß mit seinem verführendem Holzkohleduft küsst.
»Ich weiß, Chen. Ich weiß«, sage ich dann, klopfe ihm auf die Schulter. Und wir seufzen.
Yèxiāo ist eine versteckte Welt, die wie Chihiros Zauberland nur auftaucht, wenn die Sonne untergeht
Unsere Mission für diese Reise war, diese Lammspieße zu finden. Sie werden traditionell eher nachts gegessen, zur Zeit von yèxiāo. Das heißt Mitternachtssnack. Ab 21 Uhr verwandeln sich die Straßen in ein Lichtermeer und die Bürgersteige in kleine Restaurants. Fliegende Händler befeuern zerkratzte Woks, stellen Klapptische und Plastikhocker auf. Der Geruch von Eierreis und Sesamöl vermischt sich mit der frischen Abendluft. Zum Grillfleisch wird massenhaft Bier getrunken, chinesisches wie Tsingtao oder Snow, das leicht und süffig ist, und am Morgen ist der Boden bedeckt mit Flaschen. Yèxiāo ist eine versteckte Welt, die wie Chihiros Zauberland nur auftaucht, wenn die Sonne untergeht.
Wir durchkämmten die Stadt auf Hinweise nach fahrenden Grillständen. Wir sahen aus wie Scooby-Doo und Shaggy: Der eine schnüffelte durch die Luft (er) und der andere trottete blöde hinterher (ich). Das Ergebnis war frustrierend. Viele der alten Nachtmärkte wurden in den letzten Jahren dichtgemacht. Zu viel Lärm, zu viel Müll. Passte nicht in das neue, saubere Image der Stadt. Die Händler wurden von der Straße in Läden verbannt. Chen probierte Spieß für Spieß, aber irgendetwas, und wir wissen bis heute nicht was, passte ihm nicht. Die Köche boten das gleiche Essen an, aber es hatte seinen Charme, und auch irgendwie seinen Geschmack, verloren. Nach jeder Enttäuschung tranken wir eine Flasche Snow. Außerhalb von China kennt kein Mensch diese Sorte, aber angeblich ist Snow das meistgetrunkene Bier der Welt. Vermutlich machten wir an diesem Abend einiges der Statistik aus.
Dann trafen wir ihn.
Der Mann stand vor einer Einkaufsstraße, an der wir mit meiner Mutter verabredet waren. Er trug vergilbte Schlappen und sah so alt und klapprig aus wie das Fahrrad, das er aufgebockt hatte. Statt eines Gepäckträgers war da ein kleiner Grillrost, auf dem Lammspieße brutzelten. Aus einer schmierigen Colaflasche, in deren Deckel ein Loch gestanzt war, schüttelte er Gewürzpulver auf das Fleisch. Wir kauften zwei Spieße. Chen biss ab und während er noch kaute, riss er die Augen auf. Er brachte nichts heraus als ein gestöhntes »Ja! Ja! Das ist es!«. Vielleicht war der Alte ein armer Kerl, der sich etwas dazuverdiente, wir wissen es nicht. Aber wir hatten keinen Zweifel, dass niemand geringerer in dieser Gestalt war als GOTT.
Wir beschlossen, meine Mutter einzusammeln und gleich wiederzukommen. »Ähm, okay«, lachte sie etwas irritiert, als wir nicht mehr aufhörten zu reden. Bei Ankunft war da aber keiner mehr. Wir haben den Alten nie wieder gesehen. Meine Mutter spendierte uns ein letztes Snow-Bier und tröstete uns, wie man Kinder tröstet, die behaupten, gerade den Weihnachtsmann gesehen zu haben. Natürlich glaubte sie uns kein Wort. Aber wie das mit dem Glauben ist: Muss sie auch nicht.