Es gibt zwei Arten von Menschen, die an der 30 kratzen. Die einen irren noch auf Tinder umher. Die anderen geben ganz auf und heiraten. Ich habe Hochzeiten immer belächelt: Da gibt man ein Schweinegeld aus für Kleider, die man nur einmal trägt, und Gäste, die man nicht leiden kann, man quasselt von wahrer Liebe oder von Seelenverwandtschaft oder was auch immer Verheiratete sagen, aber hinter all dem steckt eigentlich nur der Wunsch, dass dich am Ende aller Tage bitte jemand anderes tot auffinden soll als dein Nachbar.
Mit dieser Einstellung fuhr ich im Juli auf eine Hochzeit. Mein Cousin heiratete eine Kroatin, die beiden luden die gesamte Familie in ihre Heimat ein. 14 Stunden waren wir unterwegs, in denen wir, die Seite des Bräutigams, den möglichen Kulturschock diskutierten. Die Kroaten, das hatte ich gehört, tanzen auf einer Hochzeit so viel wie möglich. Die Chinesen, das hatte ich erlebt, bewegen sich auf einer Hochzeit so wenig wie möglich. Wir essen, wir trinken, wir werfen einen Geldumschlag in einen Topf und rufen dann ein Taxi nach Hause, alles mehr oder weniger die gleiche Armbewegung. Aber wir wollten uns Mühe geben. Also standen wir in der drückenden Hitze dieses Örtchens im Norden von Kroatien, eine siebenköpfige chinesische Delegation, bewaffnet mit allerlei Sonnenabwehrmitteln, mit Kappen, Cremes und Capes und dem unerschütterlichen Willen, dem Bräutigam keine Schande zu machen.
Fast jede Familie brenne ihren eigenen, und jede Familie behaupte, ihrer sei der beste
Der Abend startete holprig. Die Gastgeber waren sehr herzlich, aber wir mussten erst mal klarkommen. Weil das zu langsam ging, entschied man, mehr Schnaps ins Feuer zu gießen. Ein junger Kerl knallte eine Flasche auf den Tisch. »DDDRRRINK!«, grollte er, und ich war mir nicht sicher, ob es Erklärung oder Befehl war, also dddrrrank ich. Was für ein Getränk das war, erfuhr ich erst, nachdem ich mir einige Kurze ins Regal gestellt hatte. Der Rakija sei eine Art Heiligtum in Kroatien, erklärte der Typ, den ich den Drink Sergeant nannte. Fast jede Familie brenne ihren eigenen, und jede Familie behaupte, ihrer sei der beste. Der Rakija, der sich gerade durch meinen Magen brannte, sei mal eine Pflaume gewesen, aber man könne fast jedes Obst nehmen, das man gerade so zur Hand hat, Äpfel, Birnen, Feigen. »Hier im Dorf konkurrieren die Leute nicht darum, wer das dickste Auto hat, sondern wer den besten Rakija brennt«, sagte der Sergeant. »Eine schöne Tradition«, sagte ich. Wir stießen an.
Dem Schnaps werden sagenhafte Kräfte nachgesagt. Die Alten dort trinken ihn jeden Morgen, es ist ihr Geheimnis zum langen Leben. Gut fürs Immunsystem soll er auch sein, gut gegen Rückenschmerzen, gut fürs Herz. »Wenn du krank bist, legen wir Socken in Rakija und ziehen die an, das saugt das Fieber raus«, sagte der Sergeant. »Eine schöne Medizin«, sagte ich. Wir stießen an.
Ich schaute mich um. Vorne tanzte meine Tante mit ein paar Frauen im Reigen. Hinten becherte meine Mutter mit ein paar Männern und lachte sich kaputt. Drüben lagen sich mein Onkel und der Brautvater, eigentlich zwei harte Hunde, weinend in den Armen. Ich frage mich kurz, ob sich Jean-Baptiste Grenouille damals womöglich gar nicht mit Parfüm, sondern mit Rakija eingesprüht hat. »Das Schöne an Rakija ist: Du weißt nie, was passiert!«, sagte der Sergeant. »Is’n schöner Spruch, ja, ja!«, lallte ich und salutierte. Wir stießen nicht an. Wir schwiegen. Ich starrte in die sternenklare Nacht, wischte mir eine Träne aus dem Gesicht und dachte, wie schön es doch wäre, wenn mich jemand anderes tot auffinden würde als der Sergeant.