Muss man geschenkte Bücher lesen?

Unsere Leserin quält sich aus aus Höflichkeit durch alle Bücher, die ihr eine Freundin schenkt – und deren literarischen Geschmack sie nicht teilt. Ist das wirklich nötig?

Illustration: Serge Bloch

»Von einer lieben Verwandten bekomme ich zu allen Festtagen Bücher geschenkt, die sie gelesen hat und super findet. Leider teile ich ihren Geschmack gar nicht, weiß aber nicht, wie ich ihr das vermitteln kann, ohne sie zu beleidigen. Im Gegenteil, ich lese die teils sehr umfangreichen Ergüsse sogar, um ­Fragen beantworten zu können. Wie komme ich aus der ­Nummer raus?« Sabine E., Langen

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie rührend ich es finde, dass Sie die ­Bücher dann auch lesen, wie es klingt, sogar bis zum letzten Satz – »um Fragen beantworten zu können«. Wie süß können Menschen eigentlich sein? Ich will Ihnen das gar nicht ausreden, es hat schließlich noch nie jemandem geschadet zu lesen, und kein Buch hat einen Menschen je dümmer gemacht. Oder sagen wir, fast keines. (Oder schenkt Ihre liebe Verwandte Ihnen Bücher von Scientology?) Selbst ­Bücher, die man grauenhaft findet, können einen geistig anregen, indem sie zu Widerspruch herausfordern und einen vielleicht spüren lassen, was man in Wahrheit lesen will. Vielleicht führt so ein quälendes Leseer­lebnis Sie auf direktem Weg in den Buchladen oder eine Bücherei, wo Sie dann gezielt nach etwas suchen, das Ihnen gefällt.

Wenn ich Sie wäre, würde ich Bücher, die ich schlecht finde, vermutlich nicht ganz lesen. Ehrlich gesagt, sogar sicher nicht. Aber vielleicht sind Sie an dieser Stelle geduldiger als ich. Oder auch einfach weniger handysüchtig. Ich beneide Sie auf jeden Fall um Ihre Fähigkeit, Langeweile aus­zuhalten. Man hört doch immer öfter, wie wichtig das sein soll. Und um Ihre Aus­dauer. Man könnte auch noch anführen, dass das kritische Lesen schlechter Bücher den eigenen Geschmack immer stärker verfeinert.

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Aber Sie wollen ja raus aus der Nummer. Welche Möglichkeiten hat hier ein hyperhöflicher Mensch wie Sie? Eventuell könnten Sie Ihrer Verwandten mal stecken, was für Bücher Sie gerne lesen. Oder, was wirklich genauso gut ist: Sie nehmen die Geschenke weiter so liebevoll entgegen, machen sich aber mit der Weiterbearbeitung etwas weniger Mühe. Sie sind ein ebenso reizender Mensch wie jetzt, wenn Sie Bücher, die Ihnen nicht zusagen, nicht ganz lesen. Und wer weiß, vielleicht ist ja doch mal ein Volltreffer dabei.