SZ-Magazin: Herr Dercon, Sie werden im März zur Tate Modern nach London wechseln. Werden Sie München vermissen?
Chris Dercon: Der Abschiedsschmerz ist schon groß, aber ich bin ganz froh, wieder in eine Stadt zu ziehen, in der die Welt zu Hause ist. Dieser Mix aus unterschiedlichen Kulturen, der fehlt hier. Ich habe viele Freunde, die nicht aussehen wie Bayern. Im »Schumann’s« haben mich die Gäste manchmal komisch angesehen, wenn ich wieder mit einem Chinesen oder einem Thailänder oder einem Afrikaner aufkreuzte.
Sie waren sieben Jahre hier. Was nehmen Sie mit?
Ich weiß jetzt alles über Pilze. Ich kenne Stellen, absolute Geheimtipps von Leuten, die ich in Dörfern angesprochen habe. Körbeweise habe ich Pilze nach Hause getragen. Nein, im Ernst, für mich war München wie eine zweite Universität: Der Filmemacher Alexander Kluge war mein Professor für Medienkunde, Winfried Nerdinger für Architektur, Konstantin Grcic für Industriedesign, Barbara Vinken für Mode und Literatur. Manchmal schrieben mir meine Mitarbeiter SMS wie: Hugh Grant ist in der Ausstellung! Aber genau so wichtig war mir die SMS: Habermas ist hier! Was ich nicht gelernt habe, sind Handküsse.
Handküsse? Wir dachten immer, in Münchner Kreisen küsst man sich auf die Wange?
Das Bussibussi kenne ich aus Brüssel und aus Paris. Die Handküsse, das war mir neu, dass es das noch gibt. Dieser Automatismus dieser unterwürfigen Geste, mit Verbeugung. Wie bei Marcel Marceau. Befremdlich. Aber das Münchner Bürgertum ist ja immer für Überraschungen gut. So wie neulich, als es im »Literaturhaus« die Thesen von Thilo Sarrazin bejubelte und die kritischen Einwände der Mitdiskutanten niederbuhte. Das hat mich erschreckt.
Sie wundern sich, dass Sarrazin auch im Münchner Bürgertum Fans hat?
Man soll über Möglichkeiten diskutieren, aber nicht über Fähigkeiten von Menschen. Ich bin Belgier, ich bin in Brüssel aufgewachsen, in einem Viertel zusammen mit Tunesiern, Türken, Marokkanern. Da gab es eine Menge Konflikte, ja sogar gegenseitigen Rassismus, aber keine Spekulationen über Untermenschen. Sarrazin bemüht eine überkommene Form von Biologismus.
Immerhin bekamen Sie viel Lob, weil Sie Räume freilegen ließen, sodass jeder nun wieder die Geschichte des Hauses erleben kann.
Stimmt, aber es gab auch Stim-men, die sagten: Was Sie hier machen mit dem Rückbau, wie Sie die Geschichte aufarbeiten, welche Kunst Sie hier zulassen – muss das wirklich sein? So werden Sie nicht das Herz der Münchner gewinnen! Es gab doch auch viel Gu-tes früher in den Dreißigerjahren.
Empfanden Sie diese Kritik als berechtigt?
Nein, denn wir haben uns sehr gut informiert. Das Haus der Kunst hat nämlich durchaus eine eigene Sammlung, ein Archiv, nur wusste das kaum jemand. Wir haben all das an die Öffentlichkeit gebracht: die Stiftertafel von damals mit all den Sponsoren, die Karteikarten von Hitlers Ankauf. Ich habe öfter die Geschichte von meinem Onkel erzählt, der im Zweiten Weltkrieg Pässe gefälscht hat für belgische Juden, was ihn nach Dachau gebracht hat. Und dann kam immer diese überflüssige und absurde Frage: Was hat Ihr Onkel gemacht, dass er nach Dachau kam?
Hat er überlebt?
Er war bei den Todesmärschen nach Wolfratshausen dabei. Nach der Befreiung schickte man ihn nach Maloja, einen Kurort in der Schweiz, weil er Tuberkulose hatte. Er starb im Zug. Dieses Ge-schichtsbewusstsein, das sich in diesem »Was hat er denn gemacht?« zeigte, hat mich manchmal sehr irritiert.
Wie sind Sie sonst mit der Münchner Gesellschaft zurechtgekommen?
Gut. Wissen Sie, all das, was man mit München verbindet: das Bürgerliche, das manchmal Scheinheilige, das Jesuitenhafte und das Mondäne, das kannte ich aus Brüssel. Darin sind sich diese Städte ähnlich. Da komme ich her. Außerdem bin ich ein guter Schauspieler. Smalltalk kann ja auch anregend sein, wenn er mit Humor geführt wird.
Und? Haben Sie viel gelacht in München?
Von wegen. München ist ziemlich ironiefrei. Und Selbstironie gibt es noch viel weniger. Man nimmt sich unglaublich ernst. Und dann diese Paranoia: Meint der jetzt, was er sagt?
Einspruch. Man kann Münchnern viel nachsagen, aber nicht, dass sie keinen Humor haben: Simplicissimus, Karl Valentin, Helmut Dietl!
Ja, aber diese Form von lokalem Humor ist für Außenstehende nicht immer nachvollziehbar. Und ich liebe eher schwarzen Humor, aber damit war es nach Fassbinder vorbei. Franz Josef Strauß vielleicht noch. Jetzt bringt mich nur noch Alexander Kluge zum Lachen. Alles andere ist mir zu laut oder bleibt am Stammtisch hängen.
Haben Sie gern hier gelebt?
Ja, schon. Wenn man mit so vielen Dingen gleichzeitig beschäftigt ist, braucht man einen Ruhepol; und das war diese Stadt für mich. Ich habe mich hier immer willkommen gefühlt. Es dauert zwar, aber dann spürt man eine große Herzlichkeit. Darum habe ich auch ein wenig Angst vor London. Vor dem Lärm, der Unruhe, der man nicht entkommt. Das Dörfliche, das Beschauliche werde ich vermissen. Diese absolute Stille hier.
Manche sagen auch Stillstand dazu.
Das sehe ich anders: Die Münchner sind ein sehr kunstinteressiertes Volk. Man hat hier auch die Zeit dazu und die Möglichkeiten. Ich habe noch nie so viele Cabriolets gesehen wie hier. Es müssen mehr sein als in Los Angeles. Und Hundebesitzer. Es gibt viele Leute hier, die nicht arbeiten müssen und viel Zeit haben. Nehmen Sie die vollen Opernsäle. Oper – dafür muss man sich Zeit nehmen. Oder die Latte-Macchiato-Generation, deren größte Aktivität ist das Plattenauflegen. Studenten allerdings hab ich im Haus der Kunst nur selten gesehen.
Wirklich? Warum kommen die nicht? Das Univiertel ist ja um die Ecke.
Weil sie sich nur für ihre eigene Sache interessieren, weil sie durch ihr Studium hetzen, in der Angst, sonst ins Hintertreffen zu geraten. Dieser Tunnelblick widerspricht meiner Vorstellung von Bildung. Alles hat mit allem zu tun.
Was hat Sie 2003 gereizt, nach München zu gehen?
Ganz einfach: Ich hatte schon gute Kontakte. Zum Beispiel zum Galeristen und Künstler Rüdiger Schöttle. Ein anderer Bezugspunkt war Alexander Kluge, den ich schon immer bewundert habe. Diese beiden Menschen haben München für mich interessant gemacht.
»München muss zulassen, was es noch nicht kennt.«
Die Stadt selbst nicht?
Die kannte ich gar nicht richtig. Ich wusste nicht mal, wo Nymphenburg ist. Ich kannte nur den »Schelling-Salon«, weil ich da immer mit Schöttle saß oder im Keller Tischtennis gespielt habe.
Wie ist Ihnen das Münchner Publikum anfangs begegnet?
Es war immer erst reserviert, und dann hat es einen umarmt. Ich weiß noch meine erste Designausstellung: Droog. In den ersten drei Wochen kam kein Mensch. Aber dann wurde es besser, und am Ende standen sie Schlange.
Gab es auch Widerstände? Stolpersteine?
Nein. Wir haben ja mit dem Betenden Hitler von Maurizio Cattelan angefangen. Damit war die Latte gesetzt. Da haben wir viele interessante Besucher gehabt, auch junge Herren mit schwarzen Lederjacken und Springerstiefeln. Die Skulptur ist oft bespuckt worden. Wir hatten sogar ein paar Kopien in der Hinterhand, falls was passieren würde.
Es gab Rockkonzerte im Haus der Kunst, es gab riesige Plastikblumen an der Fassade, es gab Modeausstellungen.
Und es gab ein paar verrückte Ideen: Vor einem Jahr hatten wir hier ein kleines Projekt mit einem hierzulande unbekannten thailändischen Filmemacher namens Apichatpong Weerasethakul. Wir gaben ihm Geld in die Hand und sagten: Mach, was du willst, aber wir wollen in deinem nächsten Film als Sponsor genannt werden. Nun ist dieser Film in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden. Das ist der beste Beweis dafür, dass man manchmal verrückte Dinge tun muss. Ich nenne das kreative Zweckentfremdung. Das habe ich hier immer versucht: kreative Zweckentfremdung des Gebäudes, kreative Zweckentfremdung des Publikums, kreative Zweckentfremdung der öffentlichen Gelder.
Hatten Sie nie Angst, dass Ihnen das Münchner Publikum nicht folgt auf Ihrem Weg?
Doch. Aber ich habe auch die Neugier bei bestimmten Multiplikatoren gemerkt. Wir sprechen von vierzig bis fünfzig Leuten. Mit denen bin ich öfter auf Studienreisen gegangen, wir nannten es unsere surrealistischen Exkursionen. Wir wollten das finden, wonach wir gar nicht gesucht haben.
Wohin ging es?
Wir waren in Brüssel, nicht nur um Kunst, sondern um Klamotten anzuschauen. Wir waren in Paris, um die Villa von Rem Koolhaas zu besuchen. Letztes Jahr war ich mit fünfzig Leuten in Beirut, um mit Immobilienmaklern zu diskutieren. Und in Barcelona waren wir stundenlang in den Markthallen der Boqueria, um übers Essen zu reden. Meine letzte Reise sollte nach Afrika gehen, zu Schlingensiefs Opernhaus.
Hört sich an wie Urlaub. Was hatten diese Reisen mit dem Haus der Kunst zu tun?
Diese Reisen waren Bildungsreisen. Und das haben die Leute natürlich selbst bezahlt. Ich wollte das Feld bestellen. Diese Leute erwarten jetzt von mir, dass wir im Haus der Kunst Mode zeigen oder Design oder die Band Sonic Youth auftreten lassen.
Ihren Geist der Offenheit bekamen nicht alle zu spüren: Eine Ihrer ersten Amtshandlungen war, ein großes Schild am Museums-eingang anzubringen mit der Aufschrift »Hunde verboten«.
Ach, ich habe nichts gegen Hun-de, solange sie mich nicht im öffentlichen Raum belästigen. Oder meine Lebensgefährtin beißen, wie geschehen an der Isar vor ein paar Jahren. Oder einer Giacometti-Figur, die wir ausstellen, den Arsch lecken. Im »Schu-mann’s« stolpert man ja praktisch über die Hunde, die unter den Tischen liegen. Es gibt hier sogar Restaurants, die schöne Teller für Hunde anbieten, damit sie mitessen können.
Mal abgesehen von den Hunden, was hat Sie hier am meisten gestört?
In München herrscht immer Föhn, diese Stadt wärmt sich ständig selbst auf. Sie ist nicht durchlässig, sehr hermetisch. Eine Art San Gimignano an der Isar. Das ist schade. Sie muss zulassen, was sie noch nicht kennt. Und versuchen, etwas Eigenes daraus zu machen. Diese Form des kulturellen Kannibalismus kommt hier zu kurz.
Das größte Manko dieser Stadt?
München ist einfach sehr teuer, zu teuer für junge Leute und junge Familien. Das kann man ändern mit besserer Kinderbetreuung, Erschließung von Randgebieten und Infrastrukturmaßnahmen. Aber das dauert. Da stehen wichtige Entwicklungen an. Aber in München denkt man lieber über Bäume nach, die sind heilig hier. Ich habe immer wieder versucht, rund um das Haus der Kunst ein paar Bäume fällen zu lassen, vergeblich.
Was sprach gegen die Bäume?
Es gäbe hier so schöne Ausblicke in den Englischen Garten hinten raus, die sind heute leider verstellt. Man hat die Bäume in den Fünfzigerjahren gepflanzt, um das Haus der Kunst hinter Bäumen zu verstecken. Für mich sind sie wie Schambehaarung.
Porträt: Florian Süssmayr, Foto: ddp