Warum man seinen Lieben mehr Zettel schreiben sollte

In Zeiten der Smartphone-Chats droht diese Kunst der Kommunikation auszusterben. Nur: Wie findet man die wenigen Worte, die genau die richtigen sind?

Gedanken, die haften bleiben: Manche Zettel bewahrt man auf, weil sie ein Liebesbeweis sind.

Illustration: Animationseries2000

Der erste Zettel, den ich als Kind schrieb, zumindest der erste, ­an den ich mich erin­nere, war an meine Mutter gerichtet. Mei­ne Eltern waren am Abend seit Ewigkeiten mal wieder aus und ließen mich in der Obhut meiner großen Geschwister zurück. Natürlich fiel mir genau an diesem Abend der Wackelzahn heraus, für dessen Coming-out ich eigentlich auf Publikum spekuliert hatte. Also ging ich in die Küche und krakelte in Ermangelung eines Blattes Papier auf eine leere Vokabelkarte meines Bruders: »Liebe Mama, der Zahn da (->) ist mir heute Abend rausgefallen.« Dann klebte ich den Zahn mit Tesafilm (viel, er war blutig) in die Ecke der Vokabelkarte – es war der Eckzahn, ich muss wohl nicht erklären, wie stolz ich auf diese heimliche Pointe war – und legte sie auf den Küchentisch. Meine Mutter fand den Zettel so lustig, dass sie ihn samt meines aufgeklebten Genmaterials bis heute aufgehoben hat.

In meiner Familie schreibt man Zettel an die Menschen, die man liebt, damit sie die lesen können, wenn sie nach Hause kommen. Meistens sind es die Frauen, die die Zettel schreiben, zumindest habe ich es von meiner Mutter bewusst übernommen. Was nicht heißt, dass mein Vater keine Zettel schreibt. Sie unterscheiden sich nur in der Länge gewaltig von den Zetteln, die sonst in meiner Familie kursieren. Meine Mutter schrieb Botschaften an meinen Vater und an uns Kinder, als wir noch zu Hause wohnten, Variationen der unerschöpflichen Botschaft: »Ich bin nicht zu Hause, aber ich denke eh ständig an euch«, unterschrieben mit »Mama«, oft noch mit dem Wunsch nach einem schönen Tag. Die Zettel meines Vaters, die auf dem Küchentisch lagen, wenn man nach Hause kam, waren wesentlich kürzer und bestanden vor allem aus Abkürzungen (ich glaube, die längste unverschlüsselte Botschaft lautete: »Bin Sport«). Unvergessen der Zettel vor ein paar Jahren, als ich meine Eltern zum Abendessen bei ihnen treffen wollte und die Küche leer vorfand, auf dem Tisch ein Zettel meines Vaters an meine Mutter, unterschrieben mit »R. Hein« (als könnte sie nach 40 Jahren Beziehung und drei Kindern vergessen haben, wie er und übrigens auch sie mit Nachnamen heißt). Aber auch sein Zettel-Prinzip ist das gleiche.

Das Prinzip ist eine Art Mini-Brief auf einem Fetzen Papier. Zunächst mal muss man dafür einen Zettel finden und einen Stift, der funktioniert. Und dann muss man überlegen, was man ­einem geliebten Menschen auf diesem Zettel schreiben möchte. Das ist die schwierigste Übung. Kleine Zettel verlangen ein Minimum an Humor oder zumindest einen liebevollen Gedanken und, vielleicht der wichtigste Punkt: Der Adressat, die Adressatin darf nicht unbedingt damit rechnen. Es darf keine Weiterführung eines Gesprächs sein. Das Überraschungsmoment ist fürs Zettelschreiben wesentlich, denn es zeigt dem anderen, dass man an ihn denkt, auch wenn er selbst mal nicht so Lust hat, an sich zu denken.

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Was das Nachrichtenschreiben in der Bahn oder im Bus so beliebt macht, ist ja auch, dass man auf einmal all das, wozu man den Rest des Tages »nicht kommt« – also das, was man in einen Anruf packen könnte, für den man sich aber nie die Zeit nimmt –, effizient auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Nachhauseweg an den anderen Menschen verschicken kann. »Kannst du noch Katzenfutter kaufen?« – »Haben wir noch Bananen?« – »Weißt du, wo die Schnullerkette ist?« In einer Nachricht mag diese kurz angebundene Kommunikation okay sein. Auf einem Zettel, den man zu Hause auf den Tisch legt, ist sie nicht nur unfreundlich, sondern sinnlos – denn bis der ­Adressat nach Hause kommt, um das Katzenfutter-Bananen-Schnullerketten-Problem zu lösen, hat es sich entweder erledigt oder den neunten Kreis der Hölle eröffnet.

Das Zettelschreiben an geliebte Menschen dagegen ist eine Aufgabe, die ein Mindestmaß an Zeit und gedanklicher Arbeit erfordert. Die Kurzbriefe müssen liebevoll genug sein, dass sich der Empfänger darüber freut, aber nicht so peinlich, dass man daran denken muss, sie verschwinden zu lassen, falls Besuch vorbeikommt. Ein Zettel aus der zweiten Kategorie, jedenfalls hart an der Grenze, hing ziemlich lange bei uns an der Wohnungstür, als ich schon mit meinem Mann zusammenwohnte. Es war ein pinkes Post-it, auf das ich gekrakelt hatte: »Bin laufen. Du bist meine große Liebe», zwei Informationen, die mir an diesem Abend wichtig schienen, meinem Mann mitzuteilen. Der Zettel hing da mindestens ein Jahr lang, für alle, die zu Besuch kamen, sichtbar. Ich war ihm gegenüber schon lange blind geworden, bis mich ein Freund auf einer Party darauf ansprach, wie »süß« er das finde. Woraufhin ich den Zettel sofort abhängte und in einer Schublade versenkte, eine Reaktion, für die ich mich auch wieder schämte. Dafür steht’s jetzt hier noch mal gedruckt.

Mein Lieblingszettel ist von der Botschaft her wesentlich banaler. Ebenfalls ein Post-it, diesmal ein blaues, auf das ich geschmiert hatte: »I bin im Piccolo«, was sich übersetzen lässt mit: »Du findest mich im italienischen Café um die Ecke«. Ich klebte den Zettel an die Innenseite der Badezimmertür, damit mein Mann ihn (und mich) finden würde, wenn er mit dem Duschen fertig war. Seitdem pappt der Zettel da und bleicht durch Duschdampf aus, was mir erstens Respekt vor der Standhaftigkeit des Klebezettel-Leims abnötigt und ihn zweitens über die Monate zu einer alle zeitlichen Dimensionen transzendierenden Botschaft gemacht hat. Man weiß nicht: Ist »I« noch dort? Kommt »I« je wieder zurück? Hat »I« schon wieder ihren Geldbeutel vergessen? Und da es mittlerweile auch egal ist, weil einer von uns am Wochenende sowieso im Café landet, lassen wir den Zettel hängen.

Was sonst noch so rumhängt: die Bitte, einen schönen Tag zu haben. Die Sonne hereinzulassen. Mindestens einmal laut zu lachen und es sich zu merken. Auch Kopien, also nicht selbst ausgedachte Botschaften, dürfen auf Zettel. Film- und Songzitate zum Beispiel. Wochenlang hing in unserer Küche ein blauer großer Zettel, auf dem stand: »I am the president of the United States of America, clothed in immense (!!!) power«, ein Zitat aus dem Film Lincoln. Da schwingt Daniel Day-Lewis als Präsident Lincoln eine Rede darüber, wie er mithilfe der enormen Macht, mit der er ausgestattet ist, Stimmenmanipulation betreiben will. Aus irgendeinem Grund fanden mein Mann und ich die Szene zum Totlachen und mussten sie mehrmals zurückspulen. Ich schrieb den Satz auf und klebte den Zettel an das, was in unserer Wohnung mit ähnlicher Macht ausgestattet ist: unsere Gastherme.

Kurz bevor ein Handwerker zur Wartung der Therme kam, hängte mein Mann den Zettel um, an den Schlafzimmerschrank, und meinte, als ich den »President« in der Küche vermisste, das wäre dann doch ein bisschen schwierig zu erklären gewesen. Ich verstand es. Der Zettel und ich hatten unsere Aufgabe ja schon erfüllt, als mein Mann an jenem Morgen, nachdem wir den Film gesehen hatten, in die Küche tapste und laut lachen musste.