»Hast du jüdisch gewählt?« Die Frage stand im Kommentar unter dem Facebook-Post einer jüdischen Bekannten. Es war der Tag der Europawahl und Menschen teilten euphorisch Fotos von ihren ganz persönlichen, heroischen Momenten in der Wahlkabine. Auch ich war wählen, es gibt davon jedoch kein Foto.
Hast du jüdisch gewählt? Mehrere Male las ich den Satz, dann klickte ich auf das Foto des Mannes, der ihn hinterlassen hatte. Ich konnte mir schnell ein Bild seiner Interessen machen: aktiv in der jüdischen Gemeinde, etliche Links zu Nachrichtenartikeln über antisemitische Vorfälle und die Flucht junger europäischer Juden nach Israel. Blinkende Grußkarten zu jüdischen Feiertagen, Comics mit jüdischen Witzen aus der New York Times. Ich kann mir vorstellen, was er mit seiner Frage meinte, nämlich etwas wie: Hast du »im jüdischen Interesse« gewählt? Aber welche Partei er dabei im Auge hatte? Ich weiß es bis heute nicht.
Der Post war öffentlich, für jeden einsehbar. Großartig, dachte ich: Sobald die falsche Person diesen Satz lesen und in den falschen Hals bekommen würde, wären es von dort bis zur vermeintlichen Bestätigung des Vorurteils, dass Juden überall die Strippen ziehen, nur wenige Schritte. Denn Hast du jüdisch gewählt? kann so verstanden werden, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland tatsächlich Einfluss auf Wahlergebnisse haben. Unter uns: Wenn man wirklich jüdisch wählen könnte, wenn es also eine allseits anerkannte jüdische Partei gäbe, dann bräuchte Deutschland keinen Antisemitismusbeauftragten. Die Realität sieht anders aus. Wer im Sinne des Fragestellers jüdisch wählen will, der kann vielleicht abwägen, welche Partei sich aktiv gegen Antisemitismus und Antizionismus stellt. Die Suche nach einer politischen Heimat, die beides bietet, hat sicherlich schon viele Jüdinnen und Juden unglücklich gemacht. Es gibt immer irgendwo einen Minister, der Tee mit iranischen Mullahs trinkt und schweigt, wenn sie die Zerstörung der Zionisten prophezeien. Ich kenne das: Ich habe mir beim Wählen jahrelang ähnliche Fragen gestellt und fühlte mich zeitweilig - wegen des immer und immer wieder aufflammenden Antisemitismus - dermaßen in die Ecke gedrängt, dass ich zwischen meinem 18. und 34. Lebensjahr kein normales Verhältnis zum Wählen hatte.
Ich bin aktuell 34.
Ich erinnere mich an die Großmutter eines jüdischen Freundes, die Zeit ihres Lebens ihr Wahlverhalten und ihre Sicht auf die politische Landschaft Deutschlands in zwei Kategorien einteilte: Gut für die Juden und schlecht für die Juden. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass ich mich heute an keine einzige politische Geste oder Aussage erinnern kann, die sie als »gut für die Juden« betrachtet hat. Als Teenager jedenfalls lachten wir darüber, wenn sie schnaubend vor dem Fernseher saß und von Rechts- bis Linksaußen alle über einen Kamm scherte, weil die einen keine Juden in Deutschland und die anderen keinen Staat Israel wollten. Erst später, als ich selbst anfing, mich für Politik zu interessieren, realisierte ich, wie weit verbreitet diese recht simple Wahlentscheidungshilfe innerhalb der jüdischen Gemeinschaft war. Ich kann es niemandem verübeln.
Genau in jenen Jahren, in denen mir politisches Engagement außerhalb meiner Aktivität im jüdischen Jugendzentrum ans Herz hätte wachsen sollen, kamen mir Jürgen Möllemann und Michel Friedman in die Quere. Es war im Frühjahr 2002, die Bundestagswahl war im September. Ich war gerade 17, durfte noch nicht wählen, verfolgte aber dennoch gespannt, ob Gerhard Schröder Bundeskanzler bleiben würde. In Deutschland regierte Rot-Grün und in meiner Klasse war ich unversehens zur inoffiziellen Botschafterin des Staates Israels geworden. Was ich denn zu »meinem« Ministerpräsidenten zu sagen hätte, wollte man wissen. Gemeint war Ariel Sharon. Wie ich denn zum Siedlungsbau stünde. Gemeint war das Westjordanland, nicht die neue Kleingartensiedlung in Köln-Poll.
Jamal Karsli, damals Mitglied der Grünen, sprach im Fernsehen von »Nazi-Methoden« in Israel und von einer »zionistischen Lobby« in Deutschland. Jürgen Möllemann (FDP) stellte sich hinter ihn und äußerte Verständnis für palästinensische Selbstmordattentate. Der Zentralrat der Juden ging auf die Barrikaden, Michel Friedman, damals Vizepräsident, legte sich öffentlich mit Möllemann an, der kaum ein Jahr später bei einem Fallschirmsprung ums Leben kam. Bis heute ist nicht klar, ob es ein Suizid war. Doch vor 16 Jahren, ein Jahr vor meinem Abitur, wussten einige meiner Klassenkameraden ganz genau Bescheid: Friedman oder vielmehr der Mossad habe Möllemanns Fallschirm manipuliert. Als Friedman im Jahr 2003 über eine Reihe von Skandalen stolperte, und als »Paolo Pinkel« (ein Deckname, den er selbst benutzt hatte) zum Lieblingsgespött deutscher Medien wurde, hörte ich auf, mich im Politikunterricht zu äußern. Ich hatte keine Lust mehr, von Leuten in meinem Alter mit Leuten wie Friedman aufgezogen zu werden - so als hätte ich mehr mit letzteren gemein als mit ersteren. Und ich hatte keine Lust mehr, sämtliche Interessen der jüdischen Gemeinde in meine politische Sicht auf die Welt einbauen zu müssen. In einer Welt, die zwischen den Polen Gut für die Juden / Schlecht für die Juden existiert, fühlte sich dieses Schweigen tatsächlich gut an. Ich hielt mich heraus, ich hatte mit dieser Polarität nichts zu tun. Wählen ging ich, weil es Bürgerpflicht war, und nicht, weil ich mir davon irgendetwas für irgendjemanden erhofft hätte.
Ich habe Verständnis für die Angst vor Antisemitismus und dem Zweifel daran, dass die Politik in Deutschland diesen jemals in den Griff bekommt. Und doch empfand ich so etwas wie Fremdscham, als ich die Frage las: Hast du jüdisch gewählt? Weil sie so plump ein so sensibles Thema aufgreift. Ich bin zwar hier zu Hause, ich bewege mich in meinem Alltag vorwiegend angstfrei durch Berlin, ich empfinde mein Judentum als schöne, kulturelle Begleiterscheinung. Und trotzdem sind wir als Juden in Deutschland und in Europa weit von einer »Normalität« entfernt.
In meiner Familie schwanken die Prognosen über die Zukunft der Juden in Europa zwischen Lasst uns nach vorne blicken! und drohender Apokalypse. Für die einen sind es schon 80 Jahre nach der Schoa, für andere erst 80 Jahre. Für die einen ist der heutige Antisemitismus ein Symptom von Rassismus, für andere die Fortsetzung eines Jahrtausende währenden Hasses auf Juden, der in Sachen Beständigkeit wirklich einzigartig ist. Selbst wenn ich als Jüdin in Deutschland irgendwie jüdisch wählen könnte, wäre meine Sicht der Dinge doch eine von mehreren Tausend Juden in Deutschland. Denn wenn ich ein Klischee über Juden unterschreiben kann, dann dieses: zwei Juden, acht Meinungen.
Die Erkenntnis kam langsam, doch als sie da war, fühlte sie sich befreiend an: Ich bin Frau, Demokratin, Europäerin und, ja, Jüdin. Und alle diese vier Säulen möchte ich vor dem Wanken bewahren, nicht bloß eine. Ich muss die Politik nicht als immer wiederkehrende Enttäuschung wahrnehmen, weil der Antisemitismus immer wiederkehrt und höchstwahrscheinlich auch immer ein Teil unserer Gesellschaft sein wird. Ich kann auch als Jüdin Politik ganzheitlicher sehen, als wachsendes Gebilde, das in vielen Belangen große Schritte nach vorne macht.
Meine persönliche Wende fand statt, als sich auf einmal andere Bedrohungen größer anfühlten als die Statistiken über den wachsenden Antisemitismus. Als ich in die Rolle der arbeitenden, Geld verdienenden, Kinder und Karriere wollenden Frau hineinwuchs, die die Umwelt retten will und Europa liebt. Es gibt kein Foto von mir aus der Wahlkabine zur Europawahl, aber zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mit Zuversicht mein Kreuz gemacht. Ich habe ebenso sehr jüdisch gewählt, wie ich weiblich, europäisch und umweltfreundlich gewählt habe. Und genau so fühlte es sich gut an.