Ab durch die Mitte

Ein Wegenetz kann noch so klug angelegt sein, der Mensch nimmt doch seinen eigenen Kurs. Ein deutscher Wissenschaftler hat das Wesen des Trampelpfads erforscht – und etwa berechnet, wie viel Zeit so eine Abkürzung sparen muss, damit sie sich durchsetzt.

»Ein gerader Weg führt immer nur ans Ziel.« (André Gide)

Foto: Jan-Dirk van der Burg

Das Navi ist der wirksamste Ver­hinderer des Trampelpfades. Google Maps ist kein Pfadfinder, der unbeschrittene Wege erschließt. Jeder Routenplaner gibt vor, den kürzesten Weg längst zu kennen. Aber ein Trampelpfad wird nicht geplant oder angelegt, er wird gesucht, verworfen, verlassen, neu gebildet, er hat etwas Subversives. Auch Landwirte und Förster sind seine Freunde nicht, aus Sorge um Tiere und Natur wollen sie keine diagonalen Abkürzungen im quadratisch geplanten Wegenetz.

Die Corona-Zeit wiederum bedeutet eine Renaissance des Trampelpfads. Die Menschen strömen hinaus – und versuchen, einander aus dem Weg zu gehen. Klaus Humpert sieht das gern. Humpert ist emeritierter Professor für Städteplanung, seit den Achtzigerjahren hat er Trampelpfade erforscht. »Der Mensch hat ein Recht auf den Irrweg«, sagt er. »Trampelpfade kann es nie genug geben. Für die Natur sind sie gar nicht so schädlich, Riesenameisen haben es auf sandigen Stellen wärmer als im dichten Gras. Für sie sind Trampelpfade ein Biotop.«

Klaus Humpert hat untersucht, ab welcher Zeitersparnis mit Sicherheit ein Trampelpfad entsteht: Es sind 25 Prozent. Er unterscheidet Gabelungen von Abzweigungen und hat ihre Winkel vermessen, in der Regel verlassen Abzweigungen einen Hauptweg im Winkel von 15 bis 30 Grad. Auf seinem Arbeitsweg zwischen Freiburg und der Universität in Stuttgart hat er Zahlen und Hypothesen ins Diktafon gesprochen.

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Der Mensch bevorzugt ausgetretene Wege. Auch Tiere. Einem Trampelpfad sieht man später nicht an, ob er von Menschen oder Kühen begonnen wurde. Er ist kein offizieller Weg, er ist die Korrektur des offiziellen Weges, oft ist er sogar illegal. Zum Beispiel, wenn er durch ein Blumenbeet verläuft. Wenn das Ziel in Sicht und der vorgegebene Weg nicht der kürzeste ist, dann sucht der Mensch mit Sicherheit bald eine Abkürzung. Viele Straßen sind auf Trampelpfaden entstanden: der Broadway auf einem alten von Indianern, die Seidenstraße aus vielen Trampelpfaden, die allmählich miteinander verbunden wurden. Der Druck, seine Wege zu ökonomisieren, ist überall auf der Welt hoch.

Der Trampelpfad ist dennoch selten die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Auch wenn das Ziel 300 Meter entfernt in Sichtweite liegt, weicht der Pfad von der Ideallinie meis­tens ab. Der Fuß sucht den sicheren Tritt, deswegen blickt der Mensch beim Gehen in der Regel nur vier, fünf Meter voraus, und bloß ab und zu blickt er kurz auf, um das Fernziel erneut zu justieren. In dieser Zeit hat er längst die kürzeste Strecke nach rechts oder links verlassen. Ein Trampelpfad mäandert.

Andere Kriterien für den Verlauf sind: Wie gut ist ein Weg bei Nacht zu finden? Gibt es wilde Tiere? Oder Pfützen und herabhängende Äste? Ist die Aussicht ein paar Meter weiter schöner? Wie leicht ist das Ziel auf einem Weg zu finden? In den Bergen nimmt man Umwege in Kauf, um nicht an Höhe zu verlieren. Oft ist die Navigation das Ergebnis eines inneren Dialogs, in dem die Kriterien abgewogen werden.

Klaus Humpert vermutet, die meisten Trampelpfade gebe es auf dem Gebiet der alten ­Sowjetunion, in Russland und Taschkent war er oft auf Reisen. In Brasilia, der am Reißbrett entworfenen Hauptstadt Brasiliens, hat er persönlich beobachtet, wie ein strenges Gitternetz aus Straßen bald von etlichen ungeplanten Wegen durchbrochen wurde.

Mit größter Wahrscheinlichkeit entdeckt man Trampelpfade auch in Humperts Habitat: an praktisch jeder Universität der Welt. »Studenten halten sich wenig an Vorschriften und suchen immer den kürzesten Weg«, sagt Humpert. Selbst in Oxford, wo jede Menge Schilder das Betreten des Rasens strengstens untersagen.

Klaus Humpert hat nun sein Opus magnum auf Englisch veröffentlicht: Trails, Tracks & ­Traces. Er ist 90 Jahre alt und sagt: »Mit dem Buch gehe ich jetzt auf Abschiedstour.«