Seit wann ist Kafka wichtiger als Motown?

Über die editorische Sorgfalt, mit der das popmusikalische Erbe gepflegt wird – anhand einer neuen Best-Of-Box mit den Hits des Motown-Labels.

Fotos: Franziska von Stenglin

Manchmal bin ich als Popfan neidisch auf den Aufwand, mit dem das Werk von Schriftstellern für die Nachwelt aufbereitet wird. Beispiel Kafka, von dem es nicht nur mehrere Gesamtausgaben, historisch-kritische Ausgaben und Handschriftenausgaben gibt, es wurden sogar seine Notizbücher faksimiliert, so dass man genau nachvollziehen kann, wann er welche Idee wo hingekritzelt und wann er sie wieder ausradiert hat.

Dank Bear Family gibt es auch im Pop zahlreiche Gesamtausgaben mit unveröffentlichtem Material; in einer Johnny-Cash-CD-Box hat das Label sogar einmal eine komplette Studiosession untergebracht, inklusive Geplauder und verpatzter Anfänge – was kulturhistorisch natürlich genauso wertvoll ist wie Kafkas Bleistiftnotizen, damit wir uns da richtig verstehen. Aber paradoxerweise vermisst man diesen editorischen Ehrgeiz gerade bei vielen Großen des Pop. In der New York Times stand kürzlich ein Artikel über den kläglichen Zustand des Beatles-Katalogs. Es ist nicht nur so, dass nichts Unveröffentlichtes von den Beatles herauskommt, zum Beispiel das lang erwartete Live At Shea Stadium-Album. Auch die CD-Versionen der regulären Studio-LPs klingen so bescheiden, dass Bootlegger wie Dr. Ebbett und Purple Chick auf die simple Idee gekommen sind, die originalen Mono- und Stereo-Mixe der Beatles-LPs auf CD herauszubringen. Das Label Purple Chick wird wegen eines speziellen Mammutprojekts selbst in der NYT gewürdigt: Dort sind die kompletten, mehrwöchigen Let It Be-Sessions erschienen – auf 83 CDs! Irgendwie kafkaesk.

Im Gegensatz dazu wird die Motown-Geschichte jedoch absolut vorbidlich aufgearbeitet. Der Dank dafür gebührt einem Mann namens Harry Weinger, Vize-Präsident im Katalog-Bereich von Universal Music, der seit Anfang der Neunziger Dutzende von Funk-und-Soul-Reissues produziert hat. Er war 1991 für die großartige James-Brown-Box Star Time verantwortlich, hat die Deluxe-Editionen der Marvin-Gaye-Alben betreut und steckt natürlich auch hinter der Reihe The Complete Motown Singles. Bisher sind bei Hip-O Select zwölf Ausgaben dieser auch optisch tollen Edition erschienen, auf jeweils fünf bis sechs CDs werden alle Motown-Singles eines Jahres zusammengefasst. Spezialistenkram? Klar – genauso wie die historisch-kritischen Gesamtausgaben unserer Literaten.

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Zum 50. Geburtstag von Motown kam nun ein neues Set heraus. The Complete No. 1's versammelt alle Nummer-Eins-Hits des Labels von 1960 bis 2000. Mercy mercy me, sieht das schön aus. Das kleine Häuschen mit Dach und Fenster, die CDs, die vielen tollen Fotos - hier haben sich alle Beteiligten sehr, sehr viel Mühe gegeben, so viel Mühe, wie »the most influential label of all time« (Mojo) auch verdient.

»We bombarded the world with hit records«, schreibt Smokey Robinson im Vorwort. Kann man wohl sagen. Auf den ersten vier CDs folgt ein Knaller auf den nächsten, sie decken die klassische Motown-Periode ab, bevor das Label 1972 von Detroit nach Los Angeles zog, dabei die Funk Brothers und somit seinen Sound zurücklassend. Trotzdem sind die späteren CDs sogar vielleicht etwas interessanter, weil man hier noch nicht jeden Song kennt. Oder wem sagt der Name T. G. Sheppard etwas, der 1975 auf Motown zwei Spitzentitel in den Country-Charts platzieren konnte? Mir war dieser mysteriöse Hitlieferant gänzlich unbekannt.

Besonders fasziniert haben mich die CDs sieben, acht und neun, die in den Achtzigern spielen. Vieles darauf ist recht grauenvoll, zum Beispiel die endlose Reihe von Schmuse-Balladen, die Lionel Richie damals aus dem Ärmel schüttelte. Und auch hier finden sich wieder diverse One-Hit-Wonder wie Charlene, Georgio, Truly und die Guinn Family, deren Werke inzwischen Kopfschütteln auslösen.

Vor allem wurde mir aber klar, wie schwer ich mich seit langem damit tue, ein Urteil über diese musikalische Ära zu fällen - den R&B der Achtziger. Neue Instrumente und Techniken haben damals den Sound ja radikal verändert und vieles davon gefällt mir nicht besonders gut. Doch im synthetischen Geballer von Fairlight und DX7, zwischen Handclap, Drummachine, Vocoder und gegateter Snare scheint manchmal eine futuristische Ästhetik auf, die etwas recht radikales hat. In der Erwartung, dass der R&B der Achtziger mal genauso cool werden würde wie der Funk der Siebziger, habe ich mir vor etlichen Jahren sehr billig zwei Kisten mit Platten von Debarge, New Edition, Keith Sweat, Jodeci und Guy gekauft. Die Kisten lagern seitdem im Keller – vielleicht werde ich demnächst mal wieder hinuntersteigen.