»Nach dem Tod meiner Mutter fand ich unter ihren Sachen ein Tagebuch. Auf dem Umschlag steht: ›Nach meinem Tod zu vernichten‹. Muss ich diesem Wunsch folgen oder darf ich die Aufzeichnungen meiner Mutter lesen?« CLAUDIA S., MÜNCHEN
In Die Tante Jolesch, einem meiner Lieblingsbücher, berichtet Friedrich Torberg über die legendären »Krautfleckerln« ebenjener Tante. Sie seien in der gesamten Verwandtschaft über alle Maßen geschätzt gewesen und hätten, sobald angekündigt, einen Strom von Krautfleckerl-Liebhabern aus allen Teilen der Monarchie ausgelöst. Jahrelang habe man versucht, der Tante Jolesch das Rezept ihrer unvergleichlichen Schöpfung zu entlocken. Umsonst. Am Sterbebett der Wunderköchin habe sich schließlich ihre Lieblingsnichte Louise ein Herz gefasst und einen letzten Anlauf gewagt: »Tante – ins Grab kannst du das Rezept ja doch nicht mitnehmen. Willst du es uns nicht hinterlassen? Willst du uns nicht endlich sagen, wieso deine Krautfleckerln immer so gut waren?« Mit letzter Kraft habe sich die Tante Jolesch ein wenig aufgerichtet: »Weil ich nie genug gemacht hab …« Sprach’s, lächelte und verschied. So Torberg. Die sagenhafte Tante hatte es sich in letzter Sekunde anders überlegt und ihr Geheimnis preisgegeben, weil sie es »nicht mit ins Grab nehmen« wollte. Gilt das vielleicht dann auch für die Aufzeichnungen Ihrer Mutter? Ich finde: Nein. Es war die Tante selbst, die sich entschloss, das bislang Gehütete zu offenbaren. Ihr stand die Entscheidung zu, nicht den Verwandten, wollten diese auch noch so sehr dem Geheimnis auf die Spur kommen. Den Ausschlag gibt für mich letztlich ein weiterer Aspekt: Tagebücher besitzen – anders als Kochrezepte – einen hohen Stellenwert in Bezug auf die Persönlichkeit des Menschen, welche nicht mit dem Tod untergeht. Der Trierer Soziologe Alois Hahn hat nachgewiesen, dass das Tagebuch im Gefolge der Reformation vor allem vom Calvinismus als Mittel zur Gewissensprüfung gefördert wurde und somit die Funktion einer »Beichte ohne Beichtvater« erfüllt. Das Beichtgeheimnis jedoch gilt nicht umsonst als »heilig«. Die Anweisung Ihrer Mutter legt nahe, dass auch für sie die Aufzeichnungen ihrer eigenen Reflexion, nicht der Information der Nachwelt dienten. Solange Sie keine dem widersprechenden Gesichtspunkte finden – Neugier allein zählt hier nicht –, sollten Sie daher den Wunsch respektieren.