Diese Woche war ich wirklich im wilden, wilden Westen. Also, zumindest geht's geographisch in Amerika nicht viel weiter westlich und auch nicht viel wilder. Sechs Stunden Flug von Los Angeles nach Hawaii, dann noch einmal 20 Minuten mit der achtsitzigen Propellermaschine rüber auf die Mini-Insel Molokai. Wer noch weiter nach Westen rudert, landet in Japan.
»Was?! Drei ganze Tage auf Molokai?" fragen sogar die Einheimischen in der Touristenhochburg Maui ungläubig. »Was wollt ihr denn da?«
Na, eben Amerika erforschen, wo es am ursprünglichsten ist. Ich suche ja immer nach Ecken, in denen Amerika nicht verrückt ist. Und Molokai ist dafür ein guter Kandidat: 8000 Einwohner, 670 Quadratkilometer Natur, keine einzige Ampel auf der ganzen Insel und nur ein einziges Hotel, dessen Manager auf keine Emails antwortet. Dafür wilde Fasane, Rehe und Schweine, Traumstrände und Wasserfälle, das klingt doch vielversprechend.
Es gibt einen Grund, warum so wenige Menschen nach Molokai reisen: Als die Seefahrer im 19. Jahrhundert die Lepra nach Hawaii brachten, entschied die Regierung, die Nordspitze von Molokai in eine Lepra-Kolonie zu verwandeln. 8500 Männer, Frauen und Kinder wurden zwangsweise aus ihren Familien gerissen, in der besonders nebligen Kalaupapa-Bucht abgesetzt, offiziell für tot erklärt und dort ohne Essen, Medikamente oder Behausungen zurück gelassen – also nur unter unwesentlich schlechteren Bedingungen als die derzeitige amerikanische Gesundheitsversorgung vorsieht. Ein katholischer Pfarrer aus Belgien und einige Krankenschwestern erbarmten sich schließlich der Notleidenden, brachten Medikamente und bauten Hütten. Für diese Heldentat, die er mit dem Leben bezahlte, wurde Pfarrer Damian de Veuster heilig gesprochen. »Ogottogott, hoffentlich steckt ihr euch nicht an«, sagt meine Schwiegermutter angesichts unserer Reisepläne. Lepra ist natürlich längst geheilt, und nur eine Handvoll der Bewohner von früher leben heute noch in der Bucht, seit das Lager 1969 geschlossen wurde, aber das Stigma haftet an der Insel wie die Moskitos an unseren Waden.
Das heißt, dass wir die Insel fast ganz für uns allein haben. Wo, bitte, findet man noch Strände, in denen man drei Meilen barfuss durch weißen Sand joggen kann, ohne eine Menschenseele zu treffen? Na gut, ins Wasser springen kann man nicht, dafür ist die Strömung zu heftig, aber die Meeresschildkröten surfen in Sichtweite.
Es gibt auch nur ein Restaurant mit Alkoholausschank auf der Insel, das Peddler's, wo die Mai Tais mit starkem Rum und bei Live-Musik gemixt werden. Nicht einmal ein Drogenproblem hat die Insel: Wenn sich um halb neun Uhr abends lange Schlangen in einer düsteren Seitengasse bilden, dann deshalb, weil die Einheimischen süchtig nach dem heißesten Süßstoff sind – da gibt die Bäckerei Kanemitsu frisch gebackenes, noch dampfendes, mit Erdbeerquark gefülltes Brot aus. Der Brotleib ist so kugelrund ist wie der Leibesumfang der Schlangensteher.
Idyllisch sind aber nur die Strände und der Erdbeerquark. Die Konflikte, die den Rest Amerikas plagen, sind auch auf der Insel zu spüren. Die Arbeitslosenquote liegt bei 40 Prozent, das große Sheraton-Resort mit dem Golfplatz, auf dem einmal viele Japaner mit Blick auf den Pazifik golften, hat längst geschlossen, und der einzige große Arbeitgeber ist der Chemie-Riese Monsanto. Monsanto experimentiert auf gut 800 Hektar mitten auf der lavaroten Insel mit genmanipuliertem Mais. Mehrere Initiativen von Einheimischen hatten versucht, GMO-Saat auf der Insel zu verbieten, aber Monsanto gewann vor Gericht. Jeder einzelne, wirklich jeder Einheimische, vom Fahrer bis zur Verkäuferin auf dem Bio-Bauernhof, geben mir auf die Frage, welche Rolle Monsanto auf der Insel spielt, die exakt wortgleiche Antwort: »Hmm, dazu sage ich nichts. Ich will nachts ruhig schlafen können.«
Weil die üblichen Tourismus-Industrien fehlen, leben viele Einheimische off the grid, also möglichst autark. Sie fischen Mahi-Mahi für den Eigenbedarf, züchten Angus-Rinder, und bauen an, was sie selbst essen. Kalani Pruet, ein sehniger, braungebrannter Hawaiianer, lebt mit seiner Frau und seinem behinderten Sohn an der Ostspitze in einer der einsamsten Buchten. Er hat keinen Strom, keinen Fernseher, kein Telefon, dafür den idyllischsten Blumenhof, den ich jemals gesehen habe. Das Leben schmilzt hier zu Zeitlupe. Nur einige Solarpaneele spenden genügend Elektrizität, um gelegentlich Internet zu empfangen. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit dem Verkauf der Paradiesvögel, Frangipani, Hibiskus, und anderen Blumen, die am Viktualienmarkt in München ein Vermögen kosten, aber in seinem Garten üppig wuchern.
Molokai hat die höchsten Meeresklippen der Welt, und Kalani will uns den berühmten Moaula Wasserfall zeigen, aus dem er sein Trinkwasser zapft. Das Land gehört seiner Familien seit Generationen. Beim Aufstieg durch den Regenwald, den Kalani locker in Flip-Flops bewältigt, zeigt er auf Taro-Beete, also die proteinreichen Wurzeln, von denen sich Hawaiianer ernähren, pflückt Mangos und bittere blaue Beeren von den Bäumen, die »mehr Vitamin C enthalten als jede Orange«. Er reißt sogar ein Blatt von einem essbaren Hibiscus, »schmeckt wie Salat«, sagt er, »probier mal.« Tatsächlich, schmeckt wie Salat.
Über dem Wasserfall throne ein Fels wie ein orangefarbener Drache, nach dem der Ort benannt sei, erklärt Kalani auf halber Strecke durch eine dramatische Kulisse, wie ich sie aus Jurassic Park kenne (dem Dinosaurier-Film, den Spielberg auf der Nachbarinsel drehte). Gerade denke ich, wie froh ich bin, einmal dem Hagel aus Trump-Tweets in einer wirklich handy-freien Regenwald-Zone entkommen zu sein, da lande ich beim orangen Drachen! Als habe er meinen Gedanken gelesen sagt Kalani unvermittelt, er sei »nicht mit allem einverstanden, was Trump macht. Aber zumindest ist er besser für die Umwelt als Hillary.« Besser für die Umwelt? Meint ausgerechnet dieser Naturbursche? Im ersten amerikanischen Bundesstaat, der schon Gesetze zur Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens verabschiedet hat? Ich falle fast von der Klippe.
»Aber er hat doch als erstes einen Öl-Boss zum Aussenminister ernannt, einen Klimawandel-Leugner zum Chef des Umweltministeriums, er will die Nationalparks verkaufen, er erlaubt der Kohleindustrie, ihre Abfälle in die Gewässer zu kippen und den Kohlendioxid-Schleudern, dass sie ihren Ausstoß nicht mehr melden müssen.« Ohnehin schon kurzatmig vom steilen Aufstieg zähle ich keuchend auf, was mir auf die Schnelle an den schlimmsten Umweltsünden der ersten 100 Tage einfällt. Nun ist es an Kalani, die Augen weit aufzureissen. Davon hat er noch nie gehört. Bisher fand er mich ganz in Ordnung. Nun mustert er mich misstrauisch, unsicher, ob man mir diesen Unfug glauben kann. Statt einer Antwort springt er in den eiskalten See am Fuß der Fälle.
Etwas Ähnliches passiert noch einmal auf dem Weg zurück: Drei Autos warten vor einer Straßenbaustelle, das gilt in Molokai schon als Stau. Kalanis Freund John McBride, unser Führer, stellt zufrieden fest: »Der neue Straßenbelag ist ein Geschenk von Trump und seiner Infrastruktur-Initiative.« Nee, John, dafür hat Trump noch nicht einmal das Budget verabschiedet. Den neuen Teerbelag verdankst du dem hawaiianischen Gouverneur. Denke ich, sage ich aber nicht.
Selbst hier also, wo die Natur am ursprünglichsten ist, schwappen mit den sanften Wellen Propagandafetzen ans Ufer statt Fakten. Der Name des Tals, Halawa, heißt wörtlich »genügend Atem«. Den werden wir alle brauchen.
Foto: Carol M. Highsmith/Buyenlarge/Getty Images