Es wird eng in deutschen Parkhäusern. Wo früher zwischen zwei Betonsäulen mühelos drei Wagen Platz fanden, quetschen sich heute zwei Autos. Denn die Autos sind immer ausladender geworden. Seit 2017 sind die meisten der in Deutschland neu zugelassenen Pkw »Geländelimousinen«, also SUV, oder größere Geländewagen. Die sind nicht selten an die zwei Meter breit. Bei der gesetzlich vorgeschriebenen Stellplatzmindestbreite von 2,30 Metern kommen da nur Schlangenmenschen aus dem Wagen. Der ADAC kennt schon die Lösung: geräumigere Parkplätze. Einige Parkhausbetreiber kommen dieser Forderung nach. Am Stuttgarter Flughafen gibt es nun Parkplätze mit einer Breite von 3,50 Metern. Damit ist das Problem aber nicht aus der Welt. Wer einmal zwei SUV beobachtet hat, die sich in einer Innenstadtstraße in Zeitlupe aneinander vorbeizwängen mussten, freut sich, Fahrradfahrer zu sein.
Dabei sind nicht nur die viel gescholtenen urbanen Geländewagen an der Verstopfung von Straßen und Parkplätzen schuld. Auch die Kompaktwagen gehen aus dem Leim. Ein VW Golf der neuen Generation ist um rund 20 Zentimeter breiter als der erste Golf von 1974.
Für all das gibt es banale Erklärungen. Die Autositze wurden bequemer und damit stattlicher, die Türen dicker. Unmengen an Elektronik wurden verbaut. Dazu die Sicherheitsstandards, Airbags brauchen viel Platz. Alles Dinge, die sinnvoll und vor allem vom Kunden so erwünscht sind. Die aber in Summe einen unerfreulichen Effekt haben: eine Fettsucht der Dinge. Und die betrifft nicht nur Autos, sondern sie scheint eine allgemeine Epidemie der zeitgenössischen Formgebung zu sein.
Natürlich gibt es Gegenbeispiele. Der gewagte Minimalismus von Designern wie Konstantin Grcic etwa, die neuen dünnen MacBooks oder Fahrräder, die nur aus Stahlrahmen und Reifen bestehen. Aber dass diese leichtfüßigen Produkte so häufig in Lifestyle-Magazinen vorkommen, mag über ihre tatsäch-liche Verbreitung täuschen. Im Alltagsdesign herrscht das Diktat des XXL. Geht das alte Bügeleisen kaputt, kann man davon ausgehen, auf ein Nachfolgemodell zu stoßen, das voluminöser, länger und wulstiger ist. Und betritt man einen großen Fahrradladen abseits der angesagten Viertel, sucht man schmale Stahlrahmenräder vergeblich. Was man stattdessen findet, sind E-Bikes. Die richten sich nicht nur an Senioren, die dank der Segnungen der Elektromobilität wieder an die frische Luft kommen. Größter Beliebtheit erfreuen sich auch E-Mountainbikes und E-Rennräder. Sie wiegen so viel wie ein kleiner Panzer und haben um das Tretlager herum oder am Rahmen Geschwülste, irgendwo muss der Motor ja stecken.
Oder wenden wir den Blick auf Smartphones. Was den Elektroniksektor angeht, ging die Entwicklung lange Zeit in Richtung Verschlankung. PCs und Laptops wurden immer handlicher, Rechner aus den Neunzigerjahren wirken heute wie riesige Kathedralen aus Elektroschrott. Und noch gibt es Handys wie das kleine iPhone SE mit seinem 4-Zoll-Touchscreen. Aber das neue iPhone X hat eine Bildschirmgröße von bis zu 6,5 Zoll – und wirkt noch zierlich gegen das, was Samsung nun auf den Markt bringt und was ein neues Wettrüsten der mobilen Kommunikation auslösen dürfte. Im zweiten Quartal 2019 kommt in Deutschland das »Fold« auf den Markt, Anbieter wie Huawei, Motorola und Oppo ziehen mit eigenen »Foldables« nach. Es sind Mobiltelefone, die nicht nur vorn den üblichen Touchscreen haben, sondern sich aufklappen lassen, um so einen zweiten, doppelt so großen Bildschirm zu präsentieren – Smartphone und Tablet in einem. Es mag sich die Frage stellen, wie oft Nutzer das Bedürfnis nach einem Bildschirm empfinden, auf dem mehrere Apps nebeneinander laufen können – und dafür in Kauf nehmen, mit einem Objekt, das nahezu die Größe eines flachen Ziegelsteins hat, herumlaufen zu müssen. Aber das ist naiv gedacht. Vermutlich werden sich die »Foldables« verkaufen wie geschnitten Brot. Weil sie größer sind und sichtbarer und teurer. Das »Fold« von Samsung wird in Deutschland für 2000 Euro zu haben sein.
Hier deutet sich die Antwort auf die Frage an, warum die Dinge immer voluminöser werden: In gesättigten Märkten lässt sich Wachstum nur durch Innovation erzielen. Theoretisch könnte das Neue auch eine Verschlankung der Form oder eine höherwertige Verarbeitung sein. Marketingtechnisch sehr viel einfacher ist es aber, Käufer mit neuen Funktionen zu locken – und die benötigen Platz. Die Beispiele sind zahlreich. Natürlich haben Boxspring-Betten den Vorteil, dass jedes Körperteil von mehreren Sprungfedern getragen wird und man gleichmäßig in der Matratze versinkt. Dafür hat man es mit einem Bett zu tun, das aussieht wie das Betonfundament eines Einfamilienhauses. Und natürlich bringt es Vorteile mit sich, wenn Toaster den Röstgrad des Brotes per Infrarotsensor überwachen und das Bräunen auch noch durch ein Fensterchen beobachtet werden kann. Aber wer so ein Ungetüm in einer kleinen Altbauküche verstauen muss, wünscht sich vielleicht den klassischen Rowenta-Klapptoaster aus den Fünfzigerjahren zurück, bei dem man zwar die Brotscheibe wenden muss, der aber dafür kaum größer ist als zwei Zigarettenschachteln. Und natürlich hat ein Thermomix … nun, die Argumente würden sich wiederholen.
Vor gut 110 Jahren schrieb der Wiener Architekt und Gestalter Adolf Loos seine bis heute wirkmächtige Polemik Ornament und Verbrechen. Darin legt er dar, dass das Ornament, die schmückende Wucherung der Form, der originäre künstlerische Ausdruck »primitiver Völker« sei. In der Gegenwart ziere es nur noch »Unglücksmöbel« und sei eine Vergeudung von Ressourcen und Arbeitskraft. Die fortschrittliche Gestaltung sei glatt.
Man kann Loos, der noch dem Repräsentativdenken des 19. Jahrhunderts verpflichtet und um eine Definition von schnörkellosem Luxus bemüht war, als Vorläufer des Minimalismus sehen, der dann vom Bauhaus radikalisiert wurde. Im avancierten Design gehört eine minimalistische Formgebung seither zum guten Ton, im Alltagsdesign hingegen scheint die klassisch-minimalistische Devise »form follows function« stark übertrieben zu werden – in dem Sinne, dass ein ständiges Mehr an Funktionen eine Wucherung der Form bewirkt. Die Folgen sind, was in Anlehnung an Loos »funktionale Ornamente« heißen könnte: Beiwerk, das zwar eine Funktion hat, auf das man aber auch gut verzichten könnte und das die Dinge dicker und spektakulärer wirken lässt.
Musterbeispiele sind die »Wireless Bluetooth Cat Ear Headphones with Speakers« von Oregon Scientific, einer Marke für »innovative Lifestyle Electronics«. Die Kopfhörer haben die gewohnten Muscheln – und oben am Bügel zwei große Katzenohren. Die sollen nicht nur Mädchen in süße Kätzchen (oder Jungs in schmusige Katerchen) verwandeln, in ihnen befinden sich auch Lautsprecher, mit denen die Umgebung beschallt werden kann. Nun sind beide Funktionen – Kopfhörer und Lautsprecher – für sich genommen sehr sinnvoll. Kombiniert jedoch stellen sie die Frage: Wieso? Wer Musik über die Boombox hört, möchte sich mit seiner Umgebung austauschen. Kopfhörer aber verhindern genau das.
Ein Gegenentwurf zur Fettsucht der Dinge ist nicht nur der Design-Minimalismus, der in der Regel sehr hochwertig und teuer ist. Schon vor mehr als zehn Jahren zeigten die Designer Naoto Fukasawa und Jasper Morrison die Ausstellung Super Normal. Der gleichnamige Katalog ist immer noch eines der anregendsten Designbücher der vergangenen Jahre – und ein Manifest für die kleine Form. Der eigentliche Gegner von Fukasawa und Morrison ist übermäßig gestaltetes Design, Formen, die die genialische Persönlichkeit des Gestaltersspiegeln und unbedingt außergewöhnlich sein wollen. Dem stellen die Autoren die Kategorie des »Supernormalen« entgegen: Alltagsgegenstände, die so archetypisch sind, dass sie gewissermaßen unsichtbar werden. In dieser Unsichtbarkeit liege der eigentliche Wert dieser Gegenstände, sie fügten dem Raum auf mysteriöse Weise eine »Atmosphäre« hinzu, meint Morrison. Das »Supernormale« – ein Weinglas oder ein Küchenstuhl – sei oft das Ergebnis einer jahrhundertelangen Evolution, in der Handhabbarkeit und Rationalität der Herstellung die Form prägten. Eine Urheberschaft ließe sich meistens nicht bestimmen. Zu den Ausnahmen gehört die achteckige Espressokanne »Moka Express«, die 1933 von Alfonso Bialetti entworfen wurde.
Vergleicht man diese Espressokanne mit der zeitgenössischen Vorrichtung zur Kaffeebereitung, dem Kaffeevollautomaten, wird klar, dass das Schwellen der Dinge nicht nur eine unschöne Vergeudung von Ressourcen und Arbeitskraft ist. Der Kaffeevollautomat kann auch nichts, was ein »Moka Express« und eine Milchkanne mit Schäumer nicht ebenso könnten. Und: Beim Vollautomaten liefert man sich mehr der Technik aus. Er muss mühevoll gereinigt und gewartet werden. Je komplexer Gerätschaften, desto anfälliger sind sie. Oft erkauft man sich einen Gewinn an Bequemlichkeit mit einem Verlust an Autonomie. Wer erlebt hat, dass im eigenen Auto die Elektronik streikt, weiß, wie sich Ohnmacht anfühlt.
Vielleicht sollte man sich angesichts der funktionalen Schwülstigkeit den Luxus dessen in Erinnerung rufen, was man »kleine Maschine« nennen könnte – eine Art von Gerät, dessen Bedienung eine gewisse Kunstfertigkeit und Mühe verlangt, mit dem der menschliche Körper aber eine Art Symbiose eingehen kann und das, ähnlich einer Prothese, eine mechanische und direkte Verlängerung seiner Fähigkeiten ist. Der technische Fortschritt, der den Menschen bisher vor allem verfettete Geräte brachte, könnte die »kleine Maschine« auf ein neues Niveau heben: Schon bald werden Kommunikationsgeräte und Ähnliches in den Körper implantiert werden. Bis es so weit ist, sollte man sich in Erinnerung rufen, wie gut es sich als Kind anfühlte, zum ersten Mal das Fahrrad im Gleichgewicht zu halten. Und wie schlecht es sich anfühlt, mit dem E-Bike unterwegs zu sein und den Ladestand der Batterie in den roten Bereich rutschen zu sehen.