Die Zeit ist reif, um auf Einhornjagd zu gehen. Das Einhornklopapier mit Zuckerwatteduft? Peng! Der Kalender mit den besten Einhornsinnsprüchen? Paff! Das Einhorn-Ketchup mit Glitzerpartikeln? Bumm! Die gigantische Einhornluftmatratze? Zack! Blattschuss! Weg damit!
Was Förster »Wildhege« nennen, ist bei den Einhörnern überfällig: den Bestand zu reduzieren, um ihn in Balance zu halten. Denn die Einhornpopulation hat sich in den vergangenen zwei, drei Jahren dramatisch vergrößert, die Tiere breiten sich unkontrolliert aus und mutieren zu Klorollenhaltern, Hauspuschen und Sexspielzeugen. Kein Produkt ist zu abwegig, um nicht mit Einhörnern bedruckt und mit Glitzerpartikeln versetzt zu werden.
Kaum ein gesellschaftliches Feld gibt es noch, in dem sich »Einhorn« nicht als Synonym für's Besondere und Einzigartige durchsetzen würde. In der Wirtschaft sind es Start-ups, die noch vor einem Börsengang eine Marktbewertung von über eine Milliarde US-Dollar erzielen. Auch im Beziehungswesen gibt es Einhörner - so nennt man die dritte Person, die aus einer etwas eingeschlafenen Heteronummer einen flotten Dreier macht. Nicht einmal vor einer Umarmung durch die Politik ist das Einhorn sicher: Als die CDU den Staatstrojaner endlich durch den Bundestag bekommen hatte, feierte sie das umstrittene Gesetz zur staatlichen Onlineüberwachung auf den sozialen Medien mit dem Bild eines Einhorns und dem Slogan: »Bei uns zum Download: der Staatstrojaner.«
Prominente von Kate Hudson über Bella Hadid bis zu Silvie Meis liefern sich derweil Instagram-Gefechte mit immer noch heißeren Bikiniposen auf gigantischen Einhornbadeinseln, dem SUV unter den Luftmatratzen: Eigentlich viel zu sperrig für den Durchschnitts-Swimming-Pool, trotzdem ein der Verkaufsschlager des vergangenen Sommers. Margot Käßmann und der Dalai Lama werden vom Einhorn aus dem Sinnspruchsegment der Buchläden verdrängt: Auf Motivationspostern, Postkarten und in Geschenkbüchlein werden Einhornweißheiten unters Volk gebracht, die wie Psalme eines quietschbunten Narzissmuskults anmuten: »Einhörner sind großartig! Ich bin großartig! Also bin ich ein Einhorn!« Gibt es etwas Unangenehmeres, als Menschen, die sich selbst für etwas ganz Besonderes halten? Man kann nur hoffen, dass die Einhornjünger von heute so was wie die Arschgeweihträger von morgen sind: kurzzeitig Teil einer hippen Avantgarde, aber schon bald für immer für ihren schlechten Geschmack gebrandmarkt.
Erste Einhornrückschläge deuten es bereits an: Nicht überall stiftet das Fabeltier Frieden und Freude. Was für den einen als Spaß begann, ist für den anderen längst hartes Geschäft. Im Herbst 2016 verschickte die Hamburger Gewürzmanufaktur »Ankerkraut« 20 kleine Gläschen einer Mischung aus Rohrzucker und Kirschblüten als Weihnachtsüberraschung an ein paar Blogger und schrieb aufs Etikett, die rosafarbene Zuckermischung sei aus »100 Prozent Einhornpups«.
Nachdem die Blogger berichtet hatten, gingen innerhalb weniger Tage über eintausend Bestellungen ein, sogar Händler von Grillzubehör berichteten, junge Mädchen stünden in ihren Läden und verlangten nach der Einhorngewürzmischung. Und so kurbelte das kleine Unternehmen die Produktion an - bis ein Anwaltsschreiben mit einer Unterlassungserklärung eintraf, denn ein Konzern hatte sich schnell die Namensrechte für den Begriff »Einhornpups« gesichert. Tatsächlich gibt es in der Datenbank des Deutschen Patent- und Markenamts noch fünf weitere Einträge mit der Wortmarke »Einhornpups« beziehungsweise »EINHORNPUPS«, »Einhorn Pups« und »Einhorn-Pups«, die von Süßwaren über Raumspray bis hin zu Fingernagelkräftigungslotion diverse Produktgruppen abdeckt. Ein Unternehmen sicherte sich zusätzlich den Namen »Einhorn-Popel«, auch »Einhornkotze« ist markenrechtlich geschützt, jedenfalls in der Warenklasse »Früchte mit Schokoladenüberzug«. Und sollte jemand erwägen, Flüssigdünger, Gleitgel oder Weincocktails unter dem Namen »Einhornpipi« auf den Markt zu bringen - zu spät.
»An Markenrechte hatten wir schlicht nicht gedacht«, sagt die Gewürzmanufaktur-Gründerin Anne Lemcke. Einen Rechtsstreit darüber, wer den Einhornpups erfunden hatte, wollte sich das Start-up nicht leisten. »Aber wir haben daraus gelernt«, sagt Lemcke. Die Gewürzmanufaktur ließ sich den Begriff »Ankerkraut Einhorn Glitzer« in der Warenklasse »Zucker und Gewürze« schützen und achtet nun peinlich genau darauf, nicht gegen die Unterlassungserklärung zum Thema »Einhornpups« zu verstoßen: Das könnte eine Geldstrafe im sechsstelligen Bereich nach sich ziehen.
Dem Absatz des rosafarbenen Produkts hat der erzwungene Namenswechsel übrigens nicht geschadet. Ähnlich wird es dem New Yorker Cafe The End gegangen sein, das die Urheberschaft des Einhorn-Frappuccinos für sich beansprucht und den Kaffeegiganten Starbucks wegen Plagiats verklagte: Der Rechtsstreit brachte dem kleinen Laden zwar nicht die erhofften zehn Millionen Dollar Schadensersatz, dafür aber jede Menge Presse und sicher ein paar neue Kunden. Für Starbucks scheint die Sache mit dem Einhornshake nicht unbedingt imagefördernd gewesen zu sein: Ein Video der Sängerin Katy Perry, in dem sie den Starbucks-Einhornfrappuccino probiert und angewidert ausspuckt, ging viral und wurde von Fans und Promiberichterstattern eingehend analysiert, ebenso der Appell eines Starbucksmitarbeiters, der am Rande des Nervenzusammenbruchs flehte, den Zuckerglitzer-Shake nicht mehr zu bestellen, es sei nämlich die Pest, ihn zusammenzumixen.
Dennoch sind sich Marketingexperten einig: So etwas wie den Einhorn-Hype gab es noch nie. Wir erinnern uns an einen kurzen, von Harry Potter hervorgerufenen Eulenhype, auch das Faultier und der Fuchs waren kurz Kult, dem Lama werden ganz gute Chancen auf einen Job als Trend-Tier prophezeit. Doch nichts spiegelt unser Bedürfnis, etwas ganz und gar besonderes und einzigartiges zu sein und deshalb auch nur Besonderes und Einzigartiges zu konsumieren, besser, als der Erfolg des Einhorns als Marketinginstrument.
Umso wichtiger ist es, das Einhorn jetzt vor seinem eigenen Erfolg zu retten. Es ist kulturgeschichtlich zu bedeutend, als dass wir es wie die Diddl-Maus enden lassen dürften - kurz heftig geliebt, danach für immer leidenschaftlich gehasst. Denn es kommt ja nicht von ungefähr, dass sich in dieser utopielosen, düsteren Zeit das Herz der Menschen ausgerechnet an ein Fabelwesen hängt. Ein Tier, das auch in grotesk verkitschter Form reinste Unschuld ausstrahlt, das für den Traum steht, irgendwo hinterm Regenbogen zu veschwinden, an einen Ort, wo alles friedlich und übersichtlich ist, wo keine Trumps und Assads und Kim Jong-uns ihr Gift verspritzen, wo niemand im Mittelmeer ertrinkt, niemand andere Menschen in die Luft sprengt und mit Maschinengewehren ummäht.
Als Projektionsfläche für unsere Sehnsucht nach dem Reinen, Guten, Zauberhaften muss das Einhorn schon seit Jahrhunderten herhalten. Als einer der ersten schrieb Ktesias von Knidos um 500 v.Chr. von edlen Tieren, die er in Indien gesehen habe und aus deren mit Zauberkräften versehenem Horn man Trinkgefäße herstelle. Auch im Christentum spielt das Einhorn eine Rolle, obwohl die vermeintliche Erwähnung von Einhörnern in der Bibel sich im 18. Jahrhundert als Übersetzungsfehler herausstellte und wohl eher Auerochsen oder Nashörner gemeint waren. Doch im Pysiologus, einem frühchristlichen Volksbuch aus dem 2. Jahrhundert, wird über ein einhörniges Wesen berichtet, so scheu und voller Reinheit, dass nur eine Jungfrau es fangen kann. Das Einhorn wurde so zu einem Symbol für Jesus Christus, die Jungfrau allegorisch zur Jungfrau Maria und das einzelne Horn zu einem Symbol für den Monotheismus.
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurde das Einhorn schließlich gängiger Bestandteil der Fabelwelt, dem - ähnlich wie dem Drachen - alle möglichen magischen Kräfte zugeschrieben wurden. Mit einer Berührung seines Horns soll es Tote zum Leben erwecken können, das Horn galt am Stück oder in pulverisierter Form als Zaubermittel gegen Gift, Pest und Aussatz. Da echte Einhornhörner auch im Mittelalter nicht zu bekommen waren, fertigte man Heilmittel, Trinkgefäße und Herrscherinsignien aus dem Stoßzahn des Narwals, der ebenfalls spiralförmig gedreht ist und der Vorstellung von einem Einhornhorn ziemlich nahe kommt. Hildegard von Bingen schwor auf die heilende Kraft von Einhornsalben, Martin Luther wurde in seiner Todesnacht mit Einhornpulver behandelt. Noch heute tragen mehr als einhundert Apotheken in Deutschland den Namen »Einhorn-Apotheke«, was das Einhorn wohl zusätzlich zu einer Art Symboltier des Placeboeffekts macht.
Seine letzte Hochphase vor dem derzeitigen Boom erlebte das Fabelwesen im Jahr 1982, als der Zeichentrickfilm Das letzte Einhorn in die Kinos kam und trotz grottenschlechter Animationsarbeit ein riesiger Erfolg wurde. Das zauberhafte letzte Einhorn muss darin den bösen »Roten Stier« besiegen, um seine Artgenossen zu befreien - was inmitten der an Endzeitphantasien reichen Endphase des Kalten Kriegs leicht als Parabel auf die Angst vor dem russischen Atom-Inferno gedeutet werden konnte. Als letztes Echo dieser Ära geistert leider immer noch und wahrscheinlich bis ans Ende aller Tage der schmalzige Titelsong der Band America durchs Formatradio.
Kein Wunder also, dass das Einhorn in unruhigen Zeiten wie diesen wieder populär wird. Nur, dass die Probleme nun mal nicht verschwinden, weil man ein bisschen Glitzerstaub darüber streut. In der großen Verzweiflung über den Aufstieg des Populismus und die gesellschaftliche Zersplitterung war uns das Einhorn kurzzeitig ein guter Tröster. Aber das Ankuscheln an die Regenbogenmähne muss jetzt ein Ende haben. Nicht zu Demos gehen, weil man stattdessen sein Einhorn striegeln muss? Vorbei. Sich die einhornweiße Zotteldecke über den Kopf ziehen, wenn im Fernsehen die Nachrichten kommen? Schluss damit! Wir brauchen ein neues Totemtier. Eines, das uns nicht permanent spiegelt, was für supertolle unvergleichliche Individualisten wir alle sind. Sondern uns daran erinnert, dass wir die Schlechtigkeit der Welt bekämpfen müssen, statt uns einfach wegzuträumen. Am besten gemeinsam, in Rudeln, mit ausgefahrenen Krallen und Gebrüll.
Ist die Einhornpopulation erstmal aufs Normalmaß reduziert, wird auf Kinderschlafanzügen, auf Motivationspostern und in den Tagträumen der Menschen Platz sein für ein anderes Trendtier. Eines, das intelligent, furchtlos und loyal ist, in der Gruppe jagt, friedliebend ist und dennoch seine Gegner das Fürchten lehrt. Mythologisch aufgeladen sollte es sein. Und damit auch Hipster auf den Zug aufspringen, darf es gern eine gewissen Nostalgie für die Ästhetik der Achtzigerjahre inklusive ihrer voluminösen Frisuren ansprechen. Ganz klar, der einzig würdige Einhornnachfolger ist: der Wolf. In die Wälder ist er schon zurückgekehrt. Bleibt abzuwarten, ob er es bis in die Duschgelregale und Tchibo-Filialen schafft.
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