Bruno, mein alter Freund, sagt, ihn beeindrucke die Stabilität jahrhundertealter Systeme, gewisser Monarchien vor allem. Bis in tiefste Tiefen hinein sei die britische Thronfolge geregelt, selbst Ernst August von Hannover habe in der Gegend von Nummer 450 seinen Platz. Auf Rang 68 finde man die zwölfjährige Miss Tallulah Lascelles, Tochter aus der zweiten Ehe des ehrenwerten Robert Jeremy Hugh Lascelles, der selbst zurzeit Nummer 64 sei und übrigens seinerseits das dritte Kind von George Lascelles, des 7. Earls of Harewood, und der Konzertpianistin Marion Stein, deren Ehe geschieden wurde, weil der Earl, ein Cousin der Queen, eine Affäre mit der Geigerin Patricia »Bambi« Tuckwell hatte, aus der sogar ein Sohn hervorgegangen war.
Stein habe später Jeremy Thorpe geheiratet, den Führer der Liberalen Partei. Wohingegen »Bambi« Tuckwell, in erster Ehe mit dem Starfotografen Athol Shmith zusammen (dessen Model sie auch war), die 2. Frau des 7. Earls wurde, der bei seiner Geburt 1923 sechster in der Thronfolge war und 2011, als er starb, auf Platz 46 lag.
»Wie verwirrend und großartig!«, seufze ich. Es werde so, doziert Bruno, quasi ein Netz über das Land geworfen, das alles zusammenhalte. Natürlich sei es undenkbar, dass jemand von Platz 450 auf den Thron vorstoße. Aber darum gehe es nicht, nur um diese ausgeklügelte Statik von Pfeilern, die ein System stützten.
So etwas müssten wir in unserem Staat auch haben, denke ich, gerade in Zeiten, in denen halb Deutschland sich in unruhigen Träumen wälzt, weil es keine richtige Regierung hat; das schätzt man in unserer Nation ja gar nicht: keine richtige Regierung zu haben. Man kann noch so oft hören, Belgien sei mal anderthalb Jahre lang ohne Regierung gewesen, Spaniens Wirtschaft habe sich glänzend entwickelt, als zehn Monate lang der Ministerpräsident nur geschäftsführend amtiert habe. Wir mögen das nicht, mögen es nicht, mögen es nicht.
Wenn es aber so eine Art Thronfolge für das Kanzleramt gäbe? Natürlich haben wir verfassungsrechtliche Regelungen. Doch reicht uns das im Zeitengerüttel? Es wäre schön, wenn da auch eine Tiefenstruktur wäre, eine Selbstverständlichkeit des Eingebundenseins. Würde Frau Merkel nach hundert Tagen keine Regierungsbildung gelingen, käme Nummer zwei dran, Schäuble wohl, nach weiteren hundert Sonnenuntergängen Schulz, dann Göring-Eckardt, Lindner und so weiter.
Jeder von uns müsste seinen Platz in dieser Kanzlerinnenamtsfolge haben, was sich berechnen ließe durch einen Algorithmus, den ein Google-Praktikant leicht zwischen Nachmittagskaffee und Pilates-Stunde entwürfe. Für den Rang wäre von Bedeutung: ob jemand etwa einem Parlament angehört hat, und sei es der Bezirksausschuss Schwanthalerhöhe; ob einer nachweisbar die Tagesschau sieht; ob sie mal Klassensprecherin war oder Trainerin einer Fußballmannschaft; ob er zur Wahl gegangen ist. Punktabzüge gäbe es für zu viele Talk-Show-Auftritte, Abbruch von Koalitionsverhandlungen, Aufsichtsratsmitgliedschaften bei russischen Staatskonzernen.
So stünde jeder von uns auf einem Kanzlerinnenfolgeplatz. Er würde nie Kanzler, aber Tallulah Lascelles ja auch nie Königin, darum geht’s nicht, wie gesagt. Jährlich läge der entsprechende Bescheid im Briefkasten, man würde erfahren, ob man mit Rang 38 012 387 an Herrn Arslan aus dem dritten Stock (der bei der Bachsäuberungsaktion im Frühjahr fehlte) vorbeigezogen ist oder sich Frau Czernowitz aus Bochum geschlagen geben musste – wie bitte?
Frau Czernowitz aus Bochum? Ja, ruft Bruno, sie schaffte kurz vor Toresschluss den Sprung auf Platz 38 012 386, mit einem rechtzeitig abgeschlossenen Abo der Süddeutschen Zeitung!
Illustration: Dirk Schmidt