Europa, sagt Bruno, mein alter Freund, erinnere ihn immer mehr an eine Familie: Deutschland, die übermächtige, sich in alles einmischende, machtvolle und nervtötende Mutter, zu der aber letztlich doch alle immer wieder kämen, um sich auszuheulen.
Frankreich, der aus der Spur geratene Vater, der mit dem Verlust seiner einstigen Fähigkeiten und überhaupt mit der ganze Welt nicht richtig zurechtkomme und, obwohl er längst arbeitslos sei, immer noch morgens nach dem Frühstück aus dem Haus gehe und allen erzähle, er müsse jetzt in die Firma - obwohl jeder wisse, dass er nur im Park spazieren gehe, im Café Balzac lese und albernerweise in seinem Alter den Mädchen nachschaue, obwohl er Potenzprobleme habe.
England, der schrullige Onkel, der ab und zu in der Tür stehe, um heißes Wasser für den Tee bitte, den er selbst mitbringe, und von den großen Geschäften erzähle, die er in der Mache habe - und von seinen Jahren in Amerika.
Österreich, der einerseits stets freundliche, aber im Inneren düstere Cousin, von dem man nicht genau wisse, was er eigentlich den ganzen Tag treibe; seltsamerweise habe man das Gefühl, er halte sich etwas zu oft im Keller auf und bastele da an irgendetwas - aber woran?
Italien und Spanien, die beiden schönen Töchter, die leider die falschen Männer geheiratet hätten und nun verzweifelt, aber immer wieder guten Mutes versuchten, die Dinge daheim zu regeln, damit wenigstens aus den Kindern was werde, das eigene Eheleben zerrinne ihnen ja quasi zwischen den Fingern.
Polen, das Baltikum, Finnland: die braven Jungs, kurz vor dem Abitur, zu den schönsten Hoffnungen Anlass gebend.
Und dann eben Griechenland. Bei Griechenland sei die Rolle klar: der pubertierende Fünfzehnjährige, der mittags um eins, das Hemd über der Hose, die Treppe herunterschleiche, den Kühlschrank öffne und dann rufe: »Scheiße, hier, schon wieder keine Bionade mehr da oder was?!«
Ob er, frage ich Bruno, in der Zeitung von diesen Leuten in Boston gelesen habe, die ein Gleitmittel erfunden hätten, mit dem man Ketchupflaschen von innen beschichten könne. Der Ketchup fließe dann gleichmäßig aus der Pulle und dieses Geklopfe, mit dem man stets den Restketchup herauszubringen versuche, habe ein Ende. Mich erinnere das an Griechenland, sage ich, dessen Regierung die internationalen Kassen mit diesem Gel auszukleiden beabsichtige, damit aus ihnen Geld dauerhaft herausgleite. Der Finanzprofessor Varoufakis sei ein Gleitmittel-Ökonom.
Ja, schön, sagt Bruno, aber man müsse jetzt bei der Familienthese bleiben, das erkläre vieles. Irgendwo habe er gelesen, Familientherapie bedeute, die Autonomie jedes einzelnen Familienmitglieds zu stärken, zu lernen, Grenzen zu setzen und auch zu akzeptieren. Das sei Voraussetzung für einen liebe- und respektvollen Umgang miteinander.
Gut, wende ich ein, aber dann müsse auch jeder bereit sein, an der Therapie teilzunehmen und dürfe sich nicht, wie Griechenland, anderen zuwenden, Russland zum Beispiel.
Das finde er nicht so schlimm, sagt Bruno, in jeder Beziehung schaue man sich nach Alternativen um, pleite sei man in dem Alter sowieso dauernd, und mancher Pubertierende ziehe mal aus, um aus der Distanz den Wert der Familie zu erkennen. Das Großartige an Europa sei doch, dass man durch die Institutionen, das gemeinsame Geld und die gemeinsame Fahne eine Familie sei, die sich nur erst ihrer gemeinsamen Stärke bewusst werden müsse! Er jubelt jetzt fast vor Begeisterung.
Russland, frage ich, was ist mit Russland?
Russland, so Bruno, erinnere an einen ungehobelten Nachbarn, der auf einem verwilderten Grundstück lebe und, statt sich um dessen Pflege zu kümmern, Rasenflächen der Nachbarn beanspruche, dort speziell trainierte Maulwürfe aussetze und nachts Zäune versetze. Im Grunde ein Fall für eine Männergruppe, auch da gebe es ja gute Angebote, jedenfalls wenn man an einer reflektierten Form von Männlichkeit interessiert sei.
Illustration: Dirk Schmidt