Gammelfleisch

Es gab mal eine Zeit, noch gar nicht lange her und doch wohl endgültig Vergangenheit, da war Fleisch ein ungetrübtes Symbol für Energie und Gesundheit. Das frische, nur kurz gebratene Filetstück, innen noch blutig, bezeichnete eine reine, magische Kraft. Ein Griff zum Steakmesser, schon wurde tierische Vitalität angeschnitten. Die verdichtete Essenz des Rindes zerging auf der Zunge – und seine Lebenskraft gleichnishaft auf den Verzehrenden über. Im Jahr 1957, als der Philosoph Roland Barthes diesem bürgerlichen Mythos einen Text widmete, muss diese quasi-kannibalistische Idee noch universal gewesen sein – unbelastet vom Mitleid für das getötete Tier, frei von vegetarischen, hormonellen oder bakteriellen Zweifeln. Auch drei Jahrzehnte später, Anfang der neunziger Jahre, hielt es ein Joghurt-Hersteller noch für eine gute Idee, mit dem Slogan »So wertvoll wie ein kleines Steak« an die Legende anzuschließen.Schon immer aber hatte der Mythos eine Schattenseite. So explosiv die im Fleisch gebannte Kraft war, so instabil war sie auch. Die Drohung der schnellen Verderblichkeit begleitete sie von Anfang an. Bis heute kehrt diese Energie, einmal gekippt, mit negativem Vorzeichen zurück, verwandelt sich in eine Verderben bringende Macht. Strenger Geruch, schleimige Oberfläche, grünliche Verfärbungen – nichts im Kühlschrank, das weiß jede Hausfrau und jede Küchenfibel, ist gefährlicher als verdorbenes Fleisch. Keine angefaulte Tomate, kein verschimmeltes Brot hat diese durchschlagende, ja potenziell todbringende Zerstörungskraft im menschlichen Magen. Kein Verfallsdatum muss genauer im Auge behalten, kein verdächtiges Stück schneller entsorgt werden. Auch daraus erklärt sich die besondere Empörung der Verbraucher, die mit den »Gammelfleisch«-Skandalen der letzten Zeit einhergeht.Ein wissenschaftliches Fundament hat das nicht. Fleisch, wie wir es essen wollen, unbestrahlt und nicht sterilisiert, ist von Anfang an nicht »rein«. Es enthält grundsätzlich Keime, die jedoch prinzipiell, in nicht zu hoher Zahl, für den Menschen ungefährlich sind. Geruchs- und Schleimbildner und selbst jene Bakterien, die grüne Verfärbungen auslösen, tun dem Esser für sich genommen nichts – das bezeugen Experten wie Professor Dr. Dr. Andreas Stolle, Leiter des Instituts für Hygiene und Technologie der Lebensmittel tierischen Ursprungs in Oberschleißheim. Sie können, müssen aber nicht Begleiter der gefährlichen Krankheitserreger sein: Salmonellen und Clostridien, die ihrerseits aber keine äußerlich erkennbaren Spuren auf dem Fleisch hinterlassen. So entschlüsselt sich der paradox klingende Zusatz in vielen Gammelfleisch-Meldungen: Trotz der ekligen Details, heißt es immer wieder, habe eine »Gesundheitsgefährdung nie bestanden«. So geheimnisvoll überhöht der Ruf eines saftigen Steaks einst war, so übersteigert ist jetzt die Angst vor seinem streng riechenden Bruder.Wie ist es am Ende aber zu erklären, dass nach all diesen Problemen und Skandalen, nach BSE-Toten und Salmonellen-Opfern, nach Etikettenfälschung und Großhändler-Razzien, der Fleischkonsum nicht dauerhaft zurückgeht? Dass, nach kurzen Phasen der Beschmutzung, der Mythos Fleisch immer wieder aufersteht? Ganz einfach: weil die Katastrophe darin schon enthalten ist. BSE mag eine universale Gefahr mit grauenvollem Siechtum sein – auf absurde Weise aber bestärkte diese Krankheit auch wieder die Legende von der essbaren Essenz: Wer die unabgekochte Energie des gesunden Tieres schlürfen will, der muss damit rechnen, auch die Erreger des kranken in sich aufzunehmen – eine einfache Herausforderung an das Schicksal. Die potenzielle Gefährlich-keit ist der Idee dieses Nahrungsmittels schon eingeschrieben, als dunkle Seite seiner angenommenen Potenz. So können wir wütend auf schlechte Kontrollen und kriminelle Raffgier sein, nicht aber auf das Fleisch an sich. Und ein Stück Gammelfleisch im Kühlschrank dementiert nicht etwa den Traum vom frischen, lebenssaftigen Steak – auf paradoxe Weise bestätigt es ihn sogar.