»Auf dem Rückweg aus den Bergen kommt es in Ortsdurchfahrten häufig zu langen Staus. Dank Ortskenntnis weichen wir dann auf innerörtliche Nebenstraßen mit reiner Wohnbebauung aus. So kommen wir fast ohne Stau und etwa eine halbe Stunde früher nach Hause, aber die Anwohner haben den Verkehr im Wohngebiet. Ist unser Vorgehen moralisch vertretbar?« Ruth S., Schongau
Ihre Frage ist ein schönes Beispiel für eine sich selbst anwendende moralische Regel: Was ist, wenn es allgemeines Gesetz würde oder alle das täten? Eine Antwort finden Sie in diesem Falle nämlich auch jenseits der Moralphilosophie - in der Realität. Wenn es alle täten, wäre auf den Nebenstraßen ebenfalls Stau. Und auch wenn das nicht der Fall wäre, würden die Anwohner massiv gestört, vermutlich so stark, dass sie auf die Barrikaden gingen, bis die Verwaltung ebensolche errichten würde. Sei es mittels Durchfahrverboten oder, wenn das nichts nützt, durch Poller. Sie könnten also nicht mehr ausweichen, und am Ende stünden wieder alle im Stau auf der Hauptstraße.
Man sieht an dieser Stelle sehr gut, welche Funktion und welchen Vorteil die Moralphilosophie hat: Sie versucht, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden, ohne dass man es ausprobieren muss und der Ernstfall eintritt. Also ohne entnervte Anwohner auf den Barrikaden, Verbotsschilder und am Ende betonierten Straßensperren. Rein durch Nachdenken, ohne äußeren Zwang, nur mit dem inneren Gesetzgeber in jedem Einzelnen.
Theoretisch ist also alles klar. Nur, die negativen Folgen treten in der theoretischen Universalisierung gedacht zwar sofort ein, in der Praxis aber erst, wenn der Schleichverkehr eine kritische Größe erreicht. In den Worten von Aristoteles: Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und ein Auto im Wohngebiet noch keinen Verkehrsterror.
Und in dieser Theorie-Praxis-Lücke würde ich trotz theoretischer Bedenken die praktische Lösung suchen: Solange der Schleichverkehr für die Anwohner keine große Belastung darstellt, halte ich Ihr Ausweichen für vertretbar. Wird das Leben im Wohngebiet allerdings merklich beeinträchtigt, ist dorthin auszuweichen theoretisch wie praktisch bedenklich.
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Literatur:
Die Freiheit und der Gegensatz von Freiheit und Kausalität, die sogenannte dritte Antinomie ist die Grundlage der Moralphilosophie Kants. Das hat Theodor W. Adorno brillant in seiner Vorlesung im Jahre 1963 dargestellt. Die Vorlesung gibt es erfreulicherweise als Buch zu kaufen: Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, herausgegeben von Thomas Schröder, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010
Das Zitat von der Schwalbe stammt aus dem ersten Buch von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, 1098a 15: »Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein einziger Tag; so macht auch ein einziger Tag oder eine kurze Zeit niemanden glücklich und selig.«
Gute Übersetzungen gibt es zum Beispiel von Olof Gigon bei dtv, München 1991 und von Ursula Wolf im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2006
Illustration: Serge Bloch