»Im letzten Urlaub gab es in der Minibar nur ein kleines Bier. Anders als mein Lebensgefährte trinke ich normalerweise kein Bier, an diesem Abend hatte ich jedoch Lust darauf. Er meinte, das Bier stünde ihm zu, weil ich leichter verzichten könnte; ich meinte, es stünde mir zu, wenn ich schon einmal eines mag. Wir haben es uns geteilt, aber wer hat recht?« Tina S., Hamburg
In Ihrem kleinen Problem spiegelt sich eine große Frage der Gesellschaft: Nach welchen Kriterien sollten knappe Güter verteilt werden?
Dass es dabei gerecht zugehen soll, darin sind sich alle einig. Aber nicht darin, was nun der gerechte Maßstab ist. Der Philosoph Ernst Tugendhat verwendet dafür in seinen Vorlesungen über Ethik das Beispiel der Torte, die unter mehreren Kindern verteilt werden soll. Dabei könnten verschiedene Gründe angeführt werden, warum ein Kind mehr bekommen soll als die anderen. Zum Beispiel, weil ein Kind besonders großen Hunger habe, das Bedürfnisargument. Einem anderen habe die Mutter schon die Hälfte der Torte versprochen, das Argument aus erworbenen Rechten. Ein drittes Kind könne anführen, es habe beim Backen geholfen, das Argument nach Leistung, und weitere mehr.
Ihr Lebensgefährte bringt nun eine Art Bedürfnisargument vor, weil es ihm schwerer falle zu verzichten als Ihnen, die Sie üblicherweise kein Bier trinken. Sie entgegnen mit einer Art Ausgleichsargument, weil Sie noch nie das Bier bekommen haben, er hingegen immer. Dieses Argument wäre im Allgemeinen ziemlich schlagend, hier jedoch nicht. Ihr Partner hat zwar sonst immer das Bier bekommen, aber da war es kein knappes Gut, sondern stand, etwa in der Kneipe, in nahezu beliebigen Mengen zur Verfügung. Wenn Sie nun, da Bier ein einziges Mal knapp ist, plötzlich und ausnahmsweise Ansprüche anmelden, wirkt eine Berufung auf die sonstigen, ganz anders gelagerten Situationen schief, mehr noch, Ihr Wunsch bekommt fast etwas Willkürliches.
Tugendhat verweist aber auch auf einen Grundsatz, über den Einigkeit herrscht: Wenn keine relevanten Gründe für eine Ungleichverteilung angeführt werden können, ist gleich zu verteilen. Bei Ihnen beiden scheint mir kein Argument überzeugend und deshalb das Bier zu teilen auch als das Richtige.
Literatur:
Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1993 Dort die Achtzehnte Vorlesung: Gerechtigkeit, S. 364–391, 373f.
Daneben wie immer zu Fragen der Gerechtigkeit:
Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. Buch Gute Übersetzungen gibt es von Olof Gigon bei dtv, München 1991 und von Ursula Wolff bei rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006
Eine sehr schöne Textsammlung zum Thema Gerechtigkeit:
Christoph Horn, Nico Scarano, Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2002
Illustration: Serge Bloch