Die Gewissensfrage

»Für die Arbeit an einem technikgeschichtlichen Buch studiere ich in einem Archiv wertvolle Original-Unterlagen mit Fotos, die für mein Buch wichtig sind. Eine Ausleihe ist nicht möglich. Man kann Reproduktionen bestellen, die leider teuer und zu schlecht für den Abdruck sind. Deshalb habe ich wie ein Dieb einzelne Fotos herausgeschmuggelt, in hoher Qualität scannen lassen und heimlich wieder im Archiv platziert. Was ist von meiner Verfahrensweise zu halten?« KURT P., BERLIN

Ihr Anliegen kann man gut nachvollziehen: Halten Sie sich an die Nutzungsbedingungen, kostet Sie das mehr, die Reproduktionen werden schlecht und Ihr Buch enthält keine oder mangelhafte Bilder. Mit Ihrer »Verfahrensweise« dagegen sparen Sie Geld, der Abdruck wird besser und am Ende befinden sich auch die Originalfotos wieder an Ort und Stelle. Geht man davon aus, dass Ihr Buch mit den guten Abbildungen die Welt irgendwie wissenschaftlich oder publizistisch bereichert, hat Ihre Schmuggellösung im Vergleich die Nase vorn, zumal – und das scheint das Bestechende daran – kein Schaden entsteht. Wirklich nicht? Bei ein paar Archivfotos mag es ein wenig hochgegriffen klingen, aber trotzdem, etwas wird beschädigt: die Rechtsordnung. Das spüren Sie auch, wenn Sie »wie ein Dieb klopfenden Herzens« handeln – nicht nur wegen der Gefahr, entdeckt zu werden und in Erklärungsnöte zu geraten. Das, was Sie tun, mag kein strafbarer Diebstahl sein, verboten ist es trotzdem und sich darüber hinwegzusetzen mindert die Rechtssicherheit, selbst wenn Ihr Handeln vom praktischen Ergebnis her sinnvoller wäre. Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hat für diesen Fall seine berühmte Formel aufgestellt: »Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat.«Eins bleibt: Ist es richtig, die Rechtssicherheit so hochzuhalten? Ich finde schon. Mir persönlich ist es beispielsweise lieber, das Verbot, anderen ins Gesicht zu schlagen gilt absolut; unabhängig davon, ob mein Gegenüber gerade meint, er sei moralisch dazu berechtigt, mir wegen meiner, wie er findet, banalen Antworten eine Ohrfeige zu verpassen.