Diese Frage stellen Sie einem gelernten Juristen? Dem sofort Begriffe durch den Kopf schwirren wie Herrschaftsbereich des Empfängers, Gewahrsamsbruch, Diebstahl und Schlimmeres? Schon das bloße Nachdenken darüber vermag bedrohliche Schatten auf Ihr hoffentlich bis dato jungfräuliches Vorstrafenregister zu werfen. Und jetzt wollen Sie wahrscheinlich von mir hören, dass die Übertretung von einem halben Dutzend Gesetzen in diesem Fall in Ordnung ist.
Geschätzte Staatsanwälte, Rechtstheoretiker, Erziehungsberechtigte, Medienwächter und alle, die sonst noch Anstoß an öffentlicher Billigung von Straftaten nehmen könnten: Bitte lesen Sie nicht weiter. Denn, liebe Frau G., meinen Segen haben Sie. Ich könnte jetzt ein paar hundert Zitate bringen, warum die Liebe alles erlaubt, aber glauben Sie es mir einfach. Zwar halte ich nicht so viel davon, sich der ersten Stimme des Herzens zu widersetzen, und auch bei Ihnen scheint ja am Ende der spontan abgeschickte Liebesbrief richtig gewesen zu sein. Doch Ihre Tat ist nicht vorwerfbar. Das, was den eigentlichen Zauber der Liebe und ihres ersten Anwalls, des Verliebtseins, ausmacht, ist der Wahnsinn, das Lodern, das Unbedingte, das Nichtbedenken der Folgen. Wenn der Geliebte am anderen Ende der Welt lebte, man flöge hin, auch wenn man ihn nur kurz sähe und es vermeintlich »nicht lohnt«. Alles lohnt sich, wie Irving Berlin dazu schrieb, in seinem wunderbaren Song How Deep Is The Ocean?: »How far would I travel / To be where you are? / How far is the journey / From here to a star?« Was zählt da schon ein lächerlicher Postraub? Des eigenen Briefes? Gegenüber einer Himmelsmacht?
Sie waren schlicht nicht zurechenbar. Falls Sie in der Sache einen Verteidiger brauchen, rufen Sie mich an. Ich pauk Sie da raus!
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