Ganz selten nur lässt sich die Entstehung einer ethischen Regel so genau datieren wie in diesem Fall: auf den 26. Februar 1852 zwei Uhr morgens. Um diese Zeit begann der britische Dampfer Birkenhead in der südafrikanischen Bucht False Bay zu sinken, und Major Alexander Seton ersetzte in dieser Nacht das bis dahin geltende Kommando für aufgegebene Schiffe »Jeder für sich« durch ebenjenes »Frauen und Kinder zuerst«. Ein Entschluss, der ihn selbst, den Kapitän und weitere 435 Männer das Leben kostete, die knapp 80 Frauen und Kinder an Bord aber rettete. Das Prinzip setzte sich als ungeschriebenes Universalgesetz durch, mit der Folge, dass etwa bei der Schifffahrtskatastrophe schlechthin, dem Untergang der Titanic in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 in der 1., 2. und 3. Klasse zwar 97, 87 und 51 Prozent der Frauen gerettet wurden, aber nur 33, acht und 13 Prozent der Männer. Die Überlebenschancen der Geschlechter unterschieden sich somit, worauf der Nürnberger Sozialanthropologe Henrik Kreutz in einer Untersuchung der Opferzahlen hinweist, um den Faktor drei. Lässt sich diese Ungleichbehandlung auch ethisch rechtfertigen? Nur dann, wenn sachliche Gründe und nicht lediglich Tradition hinter ihr stehen. Das Abschneiden alter Moralzöpfe bereitet mir besonderes Vergnügen und Galanterie allein würde als Argument keinesfalls ausreichen. Ich sehe jedoch zwei relevante Ansätze. Die Parole leuchtet unmittelbar ein, sie trifft offensichtlich ein moralisches Urempfinden. In solchen Fällen liegt häufig ein biologischer Sinn zugrunde und es lohnt sich, in dieser Richtung nachzudenken. Und in der Tat, Frauen und Kinder besonders zu schonen dient der Erhaltung der Art: Bei Kindern steht die Fortpflanzung noch bevor, und bei Säugetieren wird die Reproduktion mehr durch die Anzahl der Weibchen denn Männchen begrenzt. Gleiches gilt aus Sicht einer Gruppe, etwa einer Nation – Alexander Seton, der die Regel formulierte, war schließlich Militär, die Birkenhead transportierte Nachschub für den Kaffernkrieg.Allerdings jagen mir derartige Effizienzerwägungen eher Schauer über den Rücken, als dass sie mich überzeugen. Ganz im Gegensatz zu einer anderen Überlegung: Der Schutz der Schwächeren und der Ausgleich der ihnen aus dieser Position erwachsenden Nachteile stellt einen elementaren Moralgrundsatz dar, wie ihn etwa auch John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit fordert. Damit kommt man zur Frage: Sind die Bevorzugten tatsächlich schwächer? Bei Kindern mag man das, wie Sie auch schreiben, sofort bejahen. Aber bei Frauen? Da wird es vom Einzelfall abhängen, was gegen eine generelle Regel spricht. Allerdings dürften im Notfall sowohl die Überprüfung der Leistungsfähigkeit als auch eine Diskussion darüber kaum möglich sein, deshalb muss hier notgedrungen über einen Kamm, noch dazu einen recht groben, geschoren werden: Geht man davon aus, dass in einer typisierenden Betrachtungsweise Männer größere Chancen haben als Frauen, auch ohne Aufnahme ins Rettungsboot auf offener See zu überleben, lässt sich ihre pauschale Benachteiligung bei der Platzvergabe damit ethisch rechtfertigen – unabhängig von allen emanzipatorischen Überlegungen. Im Allgemeinen hat die Regel also wohl ihren Sinn. Wenn auch nicht immer. Bei einem gemeinsamen Bootsausflug der nationalen Damen-Schwimmmannschaft und des Herren-Schachteams zum Beispiel müsste man noch einmal über ihre Geltung im Einzelfall nachdenken.
Die Gewissensfrage
»Brennt ein Haus oder sinkt ein Schiff, heißt es immer: ›Frauen und Kinder zuerst‹. Obwohl es mein Vorteil wäre, finde ich es unfair, Männer immer zuletzt zu retten. Gesetzt den Fall, ich wäre zusammen mit meinem Mann auf der ›Titanic‹ gewesen, wären mir persönlich die Kinder und Frauen anderer wohl ziemlich egal gewesen. Ich hätte versucht, meinen Mann mit ins Rettungsboot zu holen. Ist es moralisch wirklich vertretbar, Kindern und Frauen den Vortritt zu lassen? Die Hilflosigkeit von Kindern leuchtet mir ja ein, aber wir Frauen sollten doch inzwischen gleich behandelt werden. Gilt das in solchen Fällen nicht?«BIRGIT H., KIEL