Die Gewissensfrage

»Immer wenn sich jemand vordrängelt - in jeglicher Art von Warteschlangen -­, ärgere ich mich darüber. Besonders wenn er oder sie es auf eine uncharmante, plumpe Art tut. Ich gehe davon aus, dass die wenigsten gerne warten und viele wenig Zeit haben. Ich ärgere mich darüber, dass die Vordrängler sich heraus-nehmen, ihre Bedürfnisse vor die Bedürfnisse anderer zu stellen. Meine Gewissensfrage lautet nun: Soll ich die Drängler darauf ansprechen, oder soll ich sie ­ - wie es die meisten Wartenden tun - ­ einfach gewähren lassen?«Klaus Jürgen T., Köln

Cato der Ältere, römischer Staatsmann im 2. Jahrhundert vor Christus, soll jede seiner Reden im Senat mit dem Satz geschlossen haben: »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam« (»Im Übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden muss«). Diese ständige Wiederholung führte der Überlieferung zufolge dazu, dass der Antrag irgendwann eine Mehrheit erhielt und Karthago, wie Cato es wollte, im Dritten Punischen Krieg schließlich angegriffen und zerstört wurde.

Warum behellige ich Sie hier mit kriegerischen, historisch noch dazu umstrittenen Schulweisheiten? Vielleicht klingt das jetzt ein bisschen weltfremd, aber ich glaube, dass man das Zusammenleben auf ähnliche Weise befördern kann: durch ständige kleine Schritte, mögen sie im Moment auch vergeblich erscheinen. Kein Wunder, werden Sie nun ausrufen, das muss er ja glauben, wenn er seit sieben Jahren eine wöchentliche Moralkolumne schreibt. Mag sein, aber hier geht es um eine andere Idee: Viele Menschen handeln tatsächlich rücksichtslos und egoistisch, zum Beispiel wer sich in einer Schlange von Wartenden ohne besonderen Grund vordrängt.

Dazu kann man sich auf zweierlei Weise verhalten: Nichts sagen mit dem Effekt, dass der unwidersprochene Erfolg den moralischen Trittbrettfahrer in seinem Tun bestärkt. Oder man gibt ein klares Statement dazu ab; in der Hoffnung, dass er sich ein bisschen unwohl dabei fühlt und es irgendwann sein lässt.

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Natürlich spielt man dabei keine sehr attraktive Rolle und sollte höllisch aufpassen, nicht zum Moralapostel zu mutieren, der versucht, anderen seine private Moral aufzuzwingen. Aber auf ein sachliches »Das, was Sie tun, halte ich für falsch!« kann der andere ganz einfach »Ich nicht!« entgegnen – so er sich nichts vorzuwerfen hat. Nur wird ihm das deutlich schwerer fallen, wenn er sich – wie hier – wirklich unsozial verhält.

Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Hultschiner Straße 8, 81667 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.

Illustration: Marc Herold