Die Gewissensfrage

»Ich habe einen Kommilitonen und Freund, der stets schier unglaubliche Geschichten erzählt: von einer Pazifik-Überquerung, seinem Job oder der Familie. Ich vermute, dass er die im Kern wohl wahren Geschichten mit erfundenen Details stark ausschmückt. Sobald ich kritisch nachfrage, übertreibt er noch mehr. Ich habe mir schon überlegt, seine Erzählungen nachzurecherchieren. Das hielte ich aber für unaufrichtig. Ich scheue mich allerdings auch, ihn offen darauf anzusprechen. Letztlich stünde die Freundschaft wohl vor ihrem Ende.« Timm W., Frankfurt                                                                            

Soweit es um ihre Geschichten geht, kann man Menschen auf zweierlei Art und Weise betrachten. Einmal gleichsam technisch, also Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt untersuchen und daraus ethische Schlüsse ziehen respektive Urteile fällen. Und einmal eher, ja, wie soll ich es benennen, poetisch. Also auf einer zweiten Ebene, bei der das Erzählte nicht gezählt, sondern geschätzt wird – im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Dazu würde ich hier tendieren.

Natürlich dürfen Sie Ihren Freund als Großmaul überführen, wenn er es denn ist. Nur – was haben Sie davon? Dann erzählt er womöglich das nächste Mal wahrheitsgetreu: vielleicht von langweiligen Familienfesten, der Überquerung eines Baggerweihers statt des Pazifiks und dem Versprecher eines Professors in der Vorlesung als Höhepunkt seiner Woche. Mit anderen Worten: Dinge, die Sie vermutlich nicht hören wollen, weil sie Sie schlicht nicht interessieren. Nicht umsonst stehen Märchenerzähler in vielen Kulturen hoch im Kurs, und die meisten Menschen freuen sich, wenn nach der Tagesschau der Spielfilm beginnt: Information ist wichtig, aber nicht alles. Ein Gespräch wird auch Unterhaltung genannt, und das stellt eine seiner Funktionen dar. Allerdings bleibt eine Frage: Wertet man damit den anderen nicht ab zu einer reinen Unterhaltungsfigur, einem menschlichen Fernsehgerät, von dem man sich mit amüsanten Unglaubwürdigkeiten berieseln und die Zeit vertreiben lässt, zu einer Art Hofnarr, den man nicht ernst nimmt? Ich behaupte: nein. Zum einen kommt dem Hofnarren wie etwa in Shakespeares King Lear häufig die Aufgabe zu, in seiner Übertreibung die Wahrheit am trefflichsten darzustellen. Zum anderen aber können Sie als Zuhörer zwischen Kern und Ausschmückung unterscheiden. Und solange Sie Ihren Freund als Menschen achten, können Sie seine unterhaltsame Seite auch als echte Bereicherung empfinden.

Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Hultschiner Straße 8, 80677 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.

Illustration: Marc Herold