Auch die Liebe kann man unterschiedlich sehen. Mancher versteht darunter etwas aus der Tiefe, dem Innersten des Menschen Hervorquellendes, ein impulsives, aus sich selbst heraus agierendes Gefühl des Begehrens, das einfach da ist – oder eben nicht mehr. Wer dem folgt, müsste jegliches Verstellen vehement ablehnen. Nicht nur, weil es ein völliges Verbiegen erfordert, mit etwas hinter dem Berg zu halten; eine Täuschung würde darüber hinaus das Gegenüber mit dessen Gefühlen ins Leere laufen lassen, fast zum Narren machen. Allerdings stellt, wer so argumentiert, das eigene Begehren und die eigene Geradlinigkeit in den Mittelpunkt.
Dem ließe sich von moralphilosophischer Seite – und um die soll es hier gehen – eine umfassendere Vorstellung von Liebe entgegensetzen, die mehr einschließt als das Lodern und Wallen der Herzen; eine tiefe Zuneigung, die für den anderen auch Sorge trägt, die wächst und sich wandeln kann. In der Terminologie Platons umfasst diese Liebe ihre verschiedenen Formen: Eros –begehrende Leidenschaft, Philia – Freundesliebe und Agape – Nächstenliebe. Das ermöglicht Differenzierungen für Ihre Frage. Am Vorabend einer Prüfung etwa würden Philia und Agape selbst bei völlig geschwundenem Eros verbieten, einen Laufpass auszustellen oder ein nächtliches Krisengespräch einzufordern. Jedoch muss das seine Grenzen haben, und es wäre genauso falsch, der in der Fremde Weilenden ein Jahr lang eine glückliche Beziehung vorzugaukeln. Das aus Rücksichtnahme zu tun mag gut gemeint sein, beraubt Ihre Freundin allerdings ihrer Chancen, etwas zu unternehmen. Vielleicht möchte sie versuchen, die Beziehung zu retten, und den nächsten Rückflug buchen. Oder aber die Zeit nutzen, sich selbst neu zu orientieren. Die Selbstbestimmung eines Menschen über längere Zeit zu missachten lässt sich auch aus Zuneigung nicht vertreten.
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Illustration: Marc Herold